APOSTOLISCHE REISE VON PAPST BENEDIKT XVI. NACH MÜNCHEN, ALTÖTTING UND REGENSBURG
(9.-14. SEPTEMBER 2006)
TREFFEN MIT DEN VERTRETERN AUS DEM BEREICH
DER WISSENSCHAFTEN
ANSPRACHE VON BENEDIKT XVI.
Aula Magna der Universität
Regensburg Dienstag, 12. September 2006
Glaube, Vernunft und Universität. Erinnerungen und Reflexionen.
Eminenzen,
Magnifizenzen, Exzellenzen, verehrte Damen und Herren!
Es ist für mich
ein bewegender Augenblick, noch einmal in der Universität zu sein und noch einmal
eine Vorlesung halten zu dürfen. Meine Gedanken gehen dabei zurück in die Jahre, in
denen ich an der Universität Bonn nach einer schönen Periode an der Freisinger Hochschule
meine Tätigkeit als akademischer Lehrer aufgenommen habe. Es war – 1959 – noch die
Zeit der alten Ordinarien-Universität. Für die einzelnen Lehrstühle gab es weder Assistenten
noch Schreibkräfte, dafür aber gab es eine sehr unmittelbare Begegnung mit den Studenten
und vor allem auch der Professoren untereinander. In den Dozentenräumen traf man sich
vor und nach den Vorlesungen. Die Kontakte mit den Historikern, den Philosophen, den
Philologen und natürlich auch zwischen beiden Theologischen Fakultäten waren sehr
lebendig. Es gab jedes Semester einen sogenannten Dies academicus, an dem sich Professoren
aller Fakultäten den Studenten der gesamten Universität vorstellten und so ein Erleben
von Universitas möglich wurde – auf das Sie, Magnifizenz, auch gerade hingewiesen
haben – die Erfahrung nämlich, daß wir in allen Spezialisierungen, die uns manchmal
sprachlos füreinander machen, doch ein Ganzes bilden und im Ganzen der einen Vernunft
mit all ihren Dimensionen arbeiten und so auch in einer gemeinschaftlichen Verantwortung
für den rechten Gebrauch der Vernunft stehen – das wurde erlebbar. Die Universität
war auch durchaus stolz auf ihre beiden Theologischen Fakultäten. Es war klar, daß
auch sie, indem sie nach der Vernunft des Glaubens fragen, eine Arbeit tun, die notwendig
zum Ganzen der Universitas scientiarum gehört, auch wenn nicht alle den Glauben teilen
konnten, um dessen Zuordnung zur gemeinsamen Vernunft sich die Theologen mühen. Dieser
innere Zusammenhalt im Kosmos der Vernunft wurde auch nicht gestört, als einmal verlautete,
einer der Kollegen habe geäußert, an unserer Universität gebe es etwas Merkwürdiges:
zwei Fakultäten, die sich mit etwas befaßten, was es gar nicht gebe – mit Gott. Daß
es auch solch radikaler Skepsis gegenüber notwendig und vernünftig bleibt, mit der
Vernunft nach Gott zu fragen und es im Zusammenhang der Überlieferung des christlichen
Glaubens zu tun, war im Ganzen der Universität unbestritten.
All dies ist mir
wieder in den Sinn gekommen, als ich kürzlich den von Professor Theodore Khoury (Münster)
herausgegebenen Teil des Dialogs las, den der gelehrte byzantinische Kaiser Manuel
II. Palaeologos wohl 1391 im Winterlager zu Ankara mit einem gebildeten Perser über
Christentum und Islam und beider Wahrheit führte.[1] Der Kaiser hat vermutlich während
der Belagerung von Konstantinopel zwischen 1394 und 1402 den Dialog aufgezeichnet;
so versteht man auch, daß seine eigenen Ausführungen sehr viel ausführlicher wiedergegeben
sind, als die seines persischen Gesprächspartners.[2] Der Dialog erstreckt sich über
den ganzen Bereich des von Bibel und Koran umschriebenen Glaubensgefüges und kreist
besonders um das Gottes- und das Menschenbild, aber auch immer wieder notwendigerweise
um das Verhältnis der, wie man sagte, „drei Gesetze“ oder „drei Lebensordnungen“:
Altes Testament – Neues Testament – Koran. Jetzt, in dieser Vorlesung möchte ich darüber
nicht handeln, nur einen – im Aufbau des ganzen Dialogs eher marginalen – Punkt berühren,
der mich im Zusammenhang des Themas Glaube und Vernunft fasziniert hat und der mir
als Ausgangspunkt für meine Überlegungen zu diesem Thema dient.
In der von
Professor Khoury herausgegebenen siebten Gesprächsrunde (διάλεξις – Kontroverse)
kommt der Kaiser auf das Thema des Djihād, des heiligen Krieges zu sprechen. Der Kaiser
wußte sicher, daß in Sure 2, 256 steht: Kein Zwang in Glaubenssachen – es ist wohl
eine der frühen Suren aus der Zeit, wie uns ein Teil der Kenner sagt, in der Mohammed
selbst noch machtlos und bedroht war. Aber der Kaiser kannte natürlich auch die im
Koran niedergelegten – später entstandenen – Bestimmungen über den heiligen Krieg.
Ohne sich auf Einzelheiten wie die unterschiedliche Behandlung von „Schriftbesitzern“
und „Ungläubigen“ einzulassen, wendet er sich in erstaunlich schroffer, für uns unannehmbar
schroffer Form ganz einfach mit der zentralen Frage nach dem Verhältnis von Religion
und Gewalt überhaupt an seinen Gesprächspartner. Er sagt: „Zeig mir doch, was Mohammed
Neues gebracht hat, und da wirst du nur Schlechtes und Inhumanes finden wie dies,
daß er vorgeschrieben hat, den Glauben, den er predigte, durch das Schwert zu verbreiten“.[3]
Der Kaiser begründet, nachdem er so zugeschlagen hat, dann eingehend, warum Glaubensverbreitung
durch Gewalt widersinnig ist. Sie steht im Widerspruch zum Wesen Gottes und zum Wesen
der Seele. „Gott hat kein Gefallen am Blut”, sagt er, „und nicht vernunftgemäß, nicht
„σὺν λόγω” zu handeln, ist dem Wesen Gottes zuwider. Der Glaube ist Frucht der Seele,
nicht des Körpers. Wer also jemanden zum Glauben führen will, braucht die Fähigkeit
zur guten Rede und ein rechtes Denken, nicht aber Gewalt und Drohung… Um eine vernünftige
Seele zu überzeugen, braucht man nicht seinen Arm, nicht Schlagwerkzeuge noch sonst
eines der Mittel, durch die man jemanden mit dem Tod bedrohen kann...".[4]
Der
entscheidende Satz in dieser Argumentation gegen Bekehrung durch Gewalt lautet: Nicht
vernunftgemäß handeln ist dem Wesen Gottes zuwider.[5] Der Herausgeber, Theodore Khoury,
kommentiert dazu: Für den Kaiser als einen in griechischer Philosophie aufgewachsenen
Byzantiner ist dieser Satz evident. Für die moslemische Lehre hingegen ist Gott absolut
transzendent. Sein Wille ist an keine unserer Kategorien gebunden und sei es die der
Vernünftigkeit.[6] Khoury zitiert dazu eine Arbeit des bekannten französischen Islamologen
R. Arnaldez, der darauf hinweist, daß Ibn Hazm so weit gehe zu erklären, daß Gott
auch nicht durch sein eigenes Wort gehalten sei und daß nichts ihn dazu verpflichte,
uns die Wahrheit zu offenbaren. Wenn er es wollte, müsse der Mensch auch Götzendienst
treiben.[7]
An dieser Stelle tut sich ein Scheideweg im Verständnis Gottes
und so in der konkreten Verwirklichung von Religion auf, der uns heute ganz unmittelbar
herausfordert. Ist es nur griechisch zu glauben, daß vernunftwidrig zu handeln dem
Wesen Gottes zuwider ist, oder gilt das immer und in sich selbst? Ich denke, daß an
dieser Stelle der tiefe Einklang zwischen dem, was im besten Sinn griechisch ist,
und dem auf der Bibel gründenden Gottesglauben sichtbar wird. Den ersten Vers der
Genesis, den ersten Vers der Heiligen Schrift überhaupt abwandelnd, hat Johannes den
Prolog seines Evangeliums mit dem Wort eröffnet: Im Anfang war der Logos. Dies ist
genau das Wort, das der Kaiser gebraucht: Gott handelt „σὺν λόγω”, mit Logos. Logos
ist Vernunft und Wort zugleich – eine Vernunft, die schöpferisch ist und sich mitteilen
kann, aber eben als Vernunft. Johannes hat uns damit das abschließende Wort des biblischen
Gottesbegriffs geschenkt, in dem alle die oft mühsamen und verschlungenen Wege des
biblischen Glaubens an ihr Ziel kommen und ihre Synthese finden. Im Anfang war der
Logos, und der Logos ist Gott, so sagt uns der Evangelist. Das Zusammentreffen der
biblischen Botschaft und des griechischen Denkens war kein Zufall. Die Vision des
heiligen Paulus, dem sich die Wege in Asien verschlossen und der nächtens in einem
Gesicht einen Mazedonier sah und ihn rufen hörte: Komm herüber und hilf uns (Apg 16,
6 – 10) – diese Vision darf als Verdichtung des von innen her nötigen Aufeinanderzugehens
zwischen biblischem Glauben und griechischem Fragen gedeutet werden.
Dabei
war dieses Zugehen längst im Gang. Schon der geheimnisvolle Gottesname vom brennenden
Dornbusch, der diesen Gott aus den Göttern mit den vielen Namen herausnimmt und von
ihm einfach das „Ich bin“, das Dasein aussagt, ist eine Bestreitung des Mythos, zu
der der sokratische Versuch, den Mythos zu überwinden und zu übersteigen, in einer
inneren Analogie steht.[8] Der am Dornbusch begonnene Prozeß kommt im Innern des Alten
Testaments zu einer neuen Reife während des Exils, wo nun der landlos und kultlos
gewordene Gott Israels sich als den Gott des Himmels und der Erde verkündet und sich
mit einer einfachen, das Dornbusch-Wort weiterführenden Formel vorstellt: „Ich bin’s.“
Mit diesem neuen Erkennen Gottes geht eine Art von Aufklärung Hand in Hand, die sich
im Spott über die Götter drastisch ausdrückt, die nur Machwerke der Menschen seien
(vgl. Ps 115). So geht der biblische Glaube in der hellenistischen Epoche bei aller
Schärfe des Gegensatzes zu den hellenistischen Herrschern, die die Angleichung an
die griechische Lebensweise und ihren Götterkult erzwingen wollten, dem Besten des
griechischen Denkens von innen her entgegen zu einer gegenseitigen Berührung, wie
sie sich dann besonders in der späten Weisheits-Literatur vollzogen hat. Heute wissen
wir, daß die in Alexandrien entstandene griechische Übersetzung des Alten Testaments
– die Septuaginta – mehr als eine bloße (vielleicht sogar wenig positiv zu beurteilende)
Übersetzung des hebräischen Textes, nämlich ein selbständiger Textzeuge und ein eigener
wichtiger Schritt der Offenbarungsgeschichte ist, in dem sich diese Begegnung auf
eine Weise realisiert hat, die für die Entstehung des Christentums und seine Verbreitung
entscheidende Bedeutung gewann.[9] Zutiefst geht es dabei um die Begegnung zwischen
Glaube und Vernunft, zwischen rechter Aufklärung und Religion. Manuel II. hat wirklich
aus dem inneren Wesen des christlichen Glaubens heraus und zugleich aus dem Wesen
des Griechischen, das sich mit dem Glauben verschmolzen hatte, sagen können: Nicht
„mit dem Logos“ handeln, ist dem Wesen Gottes zuwider.
Hier ist der Redlichkeit
halber anzumerken, daß sich im Spätmittelalter Tendenzen der Theologie entwickelt
haben, die diese Synthese von Griechischem und Christlichem aufsprengen. Gegenüber
dem sogenannten augustinischen und thomistischen Intellektualismus beginnt bei Duns
Scotus eine Position des Voluntarismus, die schließlich in den weiteren Entwicklungen
dahinführte zu sagen, wir kennten von Gott nur seine Voluntas ordinata. Jenseits davon
gebe es die Freiheit Gottes, kraft derer er auch das Gegenteil von allem, was er getan
hat, hätte machen und tun können. Hier zeichnen sich Positionen ab, die denen von
Ibn Hazm durchaus nahekommen können und auf das Bild eines Willkür-Gottes zulaufen
könnten, der auch nicht an die Wahrheit und an das Gute gebunden ist. Die Transzendenz
und die Andersheit Gottes werden so weit übersteigert, daß auch unsere Vernunft, unser
Sinn für das Wahre und Gute kein wirklicher Spiegel Gottes mehr sind, dessen abgründige
Möglichkeiten hinter seinen tatsächlichen Entscheiden für uns ewig unzugänglich und
verborgen bleiben. Demgegenüber hat der kirchliche Glaube immer daran festgehalten,
daß es zwischen Gott und uns, zwischen seinem ewigen Schöpfergeist und unserer geschaffenen
Vernunft eine wirkliche Analogie gibt, in der zwar – wie das Vierte Laterankonzil
1215 sagt – die Unähnlichkeiten unendlich größer sind als die Ähnlichkeiten, aber
eben doch die Analogie und ihre Sprache nicht aufgehoben werden. Gott wird nicht göttlicher
dadurch, daß wir ihn in einen reinen und undurchschaubaren Voluntarismus entrücken,
sondern der wahrhaft göttliche Gott ist der Gott, der sich als Logos gezeigt und als
Logos liebend für uns gehandelt hat. Gewiß, die Liebe „übersteigt“, wie Paulus sagt,
die Erkenntnis und vermag daher mehr wahrzunehmen als das bloße Denken (vgl. Eph 3,
19), aber sie bleibt doch Liebe des Gottes-Logos, weshalb christlicher Gottesdienst,
wie noch einmal Paulus sagt, „λογικη λατρεία“ ist – Gottesdienst, der im Einklang
mit dem ewigen Wort und mit unserer Vernunft steht (vgl. Röm 12, 1).[10]
Dieses
hier angedeutete innere Zugehen aufeinander, das sich zwischen biblischem Glauben
und griechischem philosophischem Fragen vollzogen hat, ist ein nicht nur religionsgeschichtlich,
sondern weltgeschichtlich entscheidender Vorgang, der uns auch heute in die Pflicht
nimmt. Wenn man diese Begegnung sieht, ist es nicht verwunderlich, daß das Christentum
trotz seines Ursprungs und wichtiger Entfaltungen im Orient schließlich seine geschichtlich
entscheidende Prägung in Europa gefunden hat. Wir können auch umgekehrt sagen: Diese
Begegnung, zu der dann noch das Erbe Roms hinzutritt, hat Europa geschaffen und bleibt
die Grundlage dessen, was man mit Recht Europa nennen kann.
Der These, daß
das kritisch gereinigte griechische Erbe wesentlich zum christlichen Glauben gehört,
steht die Forderung nach der Enthellenisierung des Christentums entgegen, die seit
dem Beginn der Neuzeit wachsend das theologische Ringen beherrscht. Wenn man näher
zusieht, kann man drei Wellen des Enthellenisierungsprogramms beobachten, die zwar
miteinander verbunden, aber in ihren Begründungen und Zielen doch deutlich voneinander
verschieden sind.[11]
Die Enthellenisierung erscheint zuerst mit den Anliegen
der Reformation des 16. Jahrhunderts verknüpft. Die Reformatoren sahen sich angesichts
der theologischen Schultradition einer ganz von der Philosophie her bestimmten Systematisierung
des Glaubens gegenüber, sozusagen einer Fremdbestimmung des Glaubens durch ein nicht
aus ihm kommendes Denken. Der Glaube erschien dabei nicht mehr als lebendiges geschichtliches
Wort, sondern eingehaust in ein philosophisches System. Das Sola Scriptura sucht demgegenüber
die reine Urgestalt des Glaubens, wie er im biblischen Wort ursprünglich da ist. Metaphysik
erscheint als eine Vorgabe von anderswoher, von der man den Glauben befreien muß,
damit er ganz wieder er selber sein könne. In einer für die Reformatoren nicht vorhersehbaren
Radikalität hat Kant mit seiner Aussage, er habe das Denken beiseite schaffen müssen,
um dem Glauben Platz zu machen, aus diesem Programm heraus gehandelt. Er hat dabei
den Glauben ausschließlich in der praktischen Vernunft verankert und ihm den Zugang
zum Ganzen der Wirklichkeit abgesprochen.
Die liberale Theologie des 19. und
20. Jahrhunderts brachte eine zweite Welle im Programm der Enthellenisierung mit sich,
für die Adolf von Harnack als herausragender Repräsentant steht. In der Zeit, als
ich studierte, wie in den frühen Jahren meines akademischen Wirkens war dieses Programm
auch in der katholischen Theologie kräftig am Werk. Pascals Unterscheidung zwischen
dem Gott der Philosophen und dem Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs diente als Ausgangspunkt
dafür. In meiner Bonner Antrittsvorlesung von 1959 habe ich mich damit auseinanderzusetzen
versucht,[12] und möchte dies alles hier nicht neu aufnehmen. Wohl aber möchte ich
wenigstens in aller Kürze versuchen, das unterscheidend Neue dieser zweiten Enthellenisierungswelle
gegenüber der ersten herauszustellen. Als Kerngedanke erscheint bei Harnack die Rückkehr
zum einfachen Menschen Jesus und zu seiner einfachen Botschaft, die allen Theologisierungen
und eben auch Hellenisierungen voraus liege: Diese einfache Botschaft stelle die wirkliche
Höhe der religiösen Entwicklung der Menschheit dar. Jesus habe den Kult zugunsten
der Moral verabschiedet. Er wird im letzten als Vater einer menschenfreundlichen moralischen
Botschaft dargestellt. Dabei geht es Harnack im Grunde darum, das Christentum wieder
mit der modernen Vernunft in Einklang zu bringen, eben indem man es von scheinbar
philosophischen und theologischen Elementen wie etwa dem Glauben an die Gottheit Christi
und die Dreieinheit Gottes befreie. Insofern ordnet die historisch-kritische Auslegung
des Neuen Testaments, wie er sie sah, die Theologie wieder neu in den Kosmos der Universität
ein: Theologie ist für Harnack wesentlich historisch und so streng wissenschaftlich.
Was sie auf dem Weg der Kritik über Jesus ermittelt, ist sozusagen Ausdruck der praktischen
Vernunft und damit auch im Ganzen der Universität vertretbar. Im Hintergrund steht
die neuzeitliche Selbstbeschränkung der Vernunft, wie sie in Kants Kritiken klassischen
Ausdruck gefunden hatte, inzwischen aber vom naturwissenschaftlichen Denken weiter
radikalisiert wurde. Diese moderne Auffassung der Vernunft beruht auf einer durch
den technischen Erfolg bestätigten Synthese zwischen Platonismus (Cartesianismus)
und Empirismus, um es verkürzt zu sagen. Auf der einen Seite wird die mathematische
Struktur der Materie, sozusagen ihre innere Rationalität vorausgesetzt, die es möglich
macht, sie in ihrer Wirkform zu verstehen und zu gebrauchen: Diese Grundvoraussetzung
ist sozusagen das platonische Element im modernen Naturverständnis. Auf der anderen
Seite geht es um die Funktionalisierbarkeit der Natur für unsere Zwecke, wobei die
Möglichkeit der Verifizierung oder Falsifizierung im Experiment erst die entscheidende
Gewißheit liefert. Das Gewicht zwischen den beiden Polen kann je nachdem mehr auf
der einen oder der anderen Seite liegen. Ein so streng positivistischer Denker wie
J. Monod hat sich als überzeugten Platoniker bezeichnet.
Dies bringt zwei für
unsere Frage entscheidende Grundorientierungen mit sich. Nur die im Zusammenspiel
von Mathematik und Empirie sich ergebende Form von Gewißheit gestattet es, von Wissenschaftlichkeit
zu sprechen. Was Wissenschaft sein will, muß sich diesem Maßstab stellen. So versuchten
dann auch die auf die menschlichen Dinge bezogenen Wissenschaften wie Geschichte,
Psychologie, Soziologie, Philosophie, sich diesem Kanon von Wissenschaftlichkeit anzunähern.
Wichtig für unsere Überlegungen ist aber noch, daß die Methode als solche die Gottesfrage
ausschließt und sie als unwissenschaftliche oder vorwissenschaftliche Frage erscheinen
läßt. Damit aber stehen wir vor einer Verkürzung des Radius von Wissenschaft und Vernunft,
die in Frage gestellt werden muß.
Darauf werde ich zurückkommen. Einstweilen
bleibt festzustellen, daß bei einem von dieser Sichtweise her bestimmten Versuch,
Theologie „wissenschaftlich“ zu erhalten, vom Christentum nur ein armseliges Fragmentstück
übrigbleibt. Aber wir müssen mehr sagen: Wenn dies allein die ganze Wissenschaft ist,
dann wird der Mensch selbst dabei verkürzt. Denn die eigentlich menschlichen Fragen,
die nach unserem Woher und Wohin, die Fragen der Religion und des Ethos können dann
nicht im Raum der gemeinsamen, von der so verstandenen „Wissenschaft“ umschriebenen
Vernunft Platz finden und müssen ins Subjektive verlegt werden. Das Subjekt entscheidet
mit seinen Erfahrungen, was ihm religiös tragbar erscheint, und das subjektive „Gewissen“
wird zur letztlich einzigen ethischen Instanz. So aber verlieren Ethos und Religion
ihre gemeinschaftsbildende Kraft und verfallen der Beliebigkeit. Dieser Zustand ist
für die Menschheit gefährlich: Wir sehen es an den uns bedrohenden Pathologien der
Religion und der Vernunft, die notwendig ausbrechen müssen, wo die Vernunft so verengt
wird, daß ihr die Fragen der Religion und des Ethos nicht mehr zugehören. Was an ethischen
Versuchen von den Regeln der Evolution oder von Psychologie und Soziologie her bleibt,
reicht einfach nicht aus.
Bevor ich zu den Schlußfolgerungen komme, auf die
ich mit alledem hinaus will, muß ich noch kurz die dritte Enthellenisierungswelle
andeuten, die zurzeit umgeht. Angesichts der Begegnung mit der Vielheit der Kulturen
sagt man heute gern, die Synthese mit dem Griechentum, die sich in der alten Kirche
vollzogen habe, sei eine erste Inkulturation des Christlichen gewesen, auf die man
die anderen Kulturen nicht festlegen dürfe. Ihr Recht müsse es sein, hinter diese
Inkulturation zurückzugehen auf die einfache Botschaft des Neuen Testaments, um sie
in ihren Räumen jeweils neu zu inkulturieren. Diese These ist nicht einfach falsch,
aber doch vergröbert und ungenau. Denn das Neue Testament ist griechisch geschrieben
und trägt in sich selber die Berührung mit dem griechischen Geist, die in der vorangegangenen
Entwicklung des Alten Testaments gereift war. Gewiß gibt es Schichten im Werdeprozeß
der alten Kirche, die nicht in alle Kulturen eingehen müssen. Aber die Grundentscheidungen,
die eben den Zusammenhang des Glaubens mit dem Suchen der menschlichen Vernunft betreffen,
die gehören zu diesem Glauben selbst und sind seine ihm gemäße Entfaltung.
Damit
komme ich zum Schluß. Die eben in ganz groben Zügen versuchte Selbstkritik der modernen
Vernunft schließt ganz und gar nicht die Auffassung ein, man müsse nun wieder hinter
die Aufklärung zurückgehen und die Einsichten der Moderne verabschieden. Das Große
der modernen Geistesentwicklung wird ungeschmälert anerkannt: Wir alle sind dankbar
für die großen Möglichkeiten, die sie dem Menschen erschlossen hat und für die Fortschritte
an Menschlichkeit, die uns geschenkt wurden. Das Ethos der Wissenschaftlichkeit –
Sie haben es angedeutet Magnifizenz – ist im übrigen Wille zum Gehorsam gegenüber
der Wahrheit und insofern Ausdruck einer Grundhaltung, die zu den wesentlichen Entscheiden
des Christlichen gehört. Nicht Rücknahme, nicht negative Kritik ist gemeint, sondern
um Ausweitung unseres Vernunftbegriffs und -gebrauchs geht es. Denn bei aller Freude
über die neuen Möglichkeiten des Menschen sehen wir auch die Bedrohungen, die aus
diesen Möglichkeiten aufsteigen, und müssen uns fragen, wie wir ihrer Herr werden
können. Wir können es nur, wenn Vernunft und Glaube auf neue Weise zueinanderfinden;
wenn wir die selbstverfügte Beschränkung der Vernunft auf das im Experiment Falsifizierbare
überwinden und der Vernunft ihre ganze Weite wieder eröffnen. In diesem Sinn gehört
Theologie nicht nur als historische und humanwissenschaftliche Disziplin, sondern
als eigentliche Theologie, als Frage nach der Vernunft des Glaubens an die Universität
und in ihren weiten Dialog der Wissenschaften hinein.
Nur so werden wir auch
zum wirklichen Dialog der Kulturen und Religionen fähig, dessen wir so dringend bedürfen.
In der westlichen Welt herrscht weithin die Meinung, allein die positivistische Vernunft
und die ihr zugehörigen Formen der Philosophie seien universal. Aber von den tief
religiösen Kulturen der Welt wird gerade dieser Ausschluß des Göttlichen aus der Universalität
der Vernunft als Verstoß gegen ihre innersten Überzeugungen angesehen. Eine Vernunft,
die dem Göttlichen gegenüber taub ist und Religion in den Bereich der Subkulturen
abdrängt, ist unfähig zum Dialog der Kulturen. Dabei trägt, wie ich zu zeigen versuchte,
die moderne naturwissenschaftliche Vernunft mit dem ihr innewohnenden platonischen
Element eine Frage in sich, die über sie und ihre methodischen Möglichkeiten hinausweist.
Sie selber muß die rationale Struktur der Materie wie die Korrespondenz zwischen unserem
Geist und den in der Natur waltenden rationalen Strukturen ganz einfach als Gegebenheit
annehmen, auf der ihr methodischer Weg beruht. Aber die Frage, warum dies so ist,
die besteht doch und muß von der Naturwissenschaft weitergegeben werden an andere
Ebenen und Weisen des Denkens – an Philosophie und Theologie. Für die Philosophie
und in anderer Weise für die Theologie ist das Hören auf die großen Erfahrungen und
Einsichten der religiösen Traditionen der Menschheit, besonders aber des christlichen
Glaubens, eine Erkenntnisquelle, der sich zu verweigern eine unzulässige Verengung
unseres Hörens und Antwortens wäre. Mir kommt da ein Wort des Sokrates an Phaidon
in den Sinn. In den vorangehenden Gesprächen hatte man viele falsche philosophische
Meinungen berührt, und nun sagt Sokrates: Es wäre wohl zu verstehen, wenn einer aus
Ärger über so viel Falsches sein übriges Leben lang alle Reden über das Sein haßte
und schmähte. Aber auf diese Weise würde er der Wahrheit des Seienden verlustig gehen
und einen sehr großen Schaden erleiden.[13] Der Westen ist seit langem von dieser
Abneigung gegen die grundlegenden Fragen seiner Vernunft bedroht und könnte damit
einen großen Schaden erleiden. Mut zur Weite der Vernunft, nicht Absage an ihre Größe
– das ist das Programm, mit dem eine dem biblischen Glauben verpflichtete Theologie
in den Disput der Gegenwart eintritt. „Nicht vernunftgemäß, nicht mit dem Logos handeln
ist dem Wesen Gottes zuwider“, hat Manuel II. von seinem christlichen Gottesbild her
zu seinem persischen Gesprächspartner gesagt. In diesen großen Logos, in diese Weite
der Vernunft laden wir beim Dialog der Kulturen unsere Gesprächspartner ein. Sie selber
immer wieder zu finden, ist die große Aufgabe der Universität.
[1] Von den insgesamt 26 Gesprächsrunden (διάλεξις – Khoury übersetzt „Controverse“)
des Dialogs („Entretien“) hat Th. Khoury die 7. „Controverse“ mit Anmerkungen und
einer umfassenden Einleitung über die Entstehung des Textes, die handschriftliche
Überlieferung und die Struktur des Dialogs sowie kurze Inhaltsangaben über die nicht
edierten „Controverses“ herausgegeben; dem griechischen Text ist eine französische
Übersetzung beigefügt: Manuel II Paléologue, Entretiens avec un Musulman. 7e Controverse.
Sources chrétiennes Nr. 115, Paris 1966. Inzwischen hat Karl Förstel im Corpus Islamico-Christianum
(Series Graeca. Schriftleitung A.Th. Khoury – R. Glei) eine kommentierte griechisch-deutsche
Textausgabe veröffentlicht: Manuel II. Palaiologus, Dialoge mit einem Muslim. 3 Bde.
Würzburg - Altenberge 1993 – 1996. Bereits 1966 hatte E. Trapp den griechischen Text
– mit einer Einleitung versehen – als Band II. der Wiener byzantinischen Studien herausgegeben.
Ich zitiere im folgenden nach Khoury. [2]Vgl. über Entstehung und Aufzeichnung
des Dialogs Khoury S. 22 – 29; ausführlich äußern sich dazu auch Förstel und Trapp
in ihren Editionen. [3]Controverse VII 2c; bei Khoury S. 142/143; Förstel Bd. I,
VII. Dialog 1.5 S. 240/241. Dieses Zitat ist in der muslimischen Welt leider als
Ausdruck meiner eigenen Position aufgefaßt worden und hat so begreiflicherweise Empörung
hervorgerufen. Ich hoffe, daß der Leser meines Textes sofort erkennen kann, daß dieser
Satz nicht meine eigene Haltung dem Koran gegenüber ausdrückt, dem gegenüber ich die
Ehrfurcht empfinde, die dem heiligen Buch einer großen Religion gebührt. Bei der Zitation
des Texts von Kaiser Manuel II. ging es mir einzig darum, auf den wesentlichen Zusammenhang
zwischen Glaube und Vernunft hinzuführen. In diesem Punkt stimme ich Manuel zu, ohne
mir deshalb seine Polemik zuzueignen. [4]Controverse VII 3b - c; bei Khoury S.
144/145; Förstel Bd. I, VII. Dialog 1.6 S. 240 – 243. [5]Einzig um dieses Gedankens
willen habe ich den zwischen Manuel und seinem persischen Gesprächspartner geführten
Dialog zitiert. Er gibt das Thema der folgenden Überlegungen vor. [6]Khoury, a.a.O.
S. 144 Anm. 1. [7]R. Arnaldez, Grammaire et théologie chez Ibn Hazm de Cordoue.
Paris 1956 S. 13; cf Khoury S. 144. Daß es in der spätmittelalterlichen Theologie
vergleichbare Positionen gibt, wird im weiteren Verlauf dieses Vortrags gezeigt. [8]Für
die viel diskutierte Auslegung der Dornbuschszene darf ich auf meine „Einführung in
das Christentum“ (München 1968) S. 84 – 102 verweisen. Ich denke, daß das dort Gesagte
trotz der weitergegangenen Diskussion nach wie vor sachgemäß ist. [9]Vgl. A. Schenker,
L’Ecriture sainte subsiste en plusieurs formes canoniques simultanées, in: L’interpretazione
della Bibbia nella Chiesa. Atti del Simposio promosso dalla Congregazione per la Dottrina
della Fede. Città del Vaticano 2001 S. 178 – 186. [10]Ausführlicher habe ich mich
dazu geäußert in meinem Buch „Der Geist der Liturgie. Eine Einführung.“ Freiburg 2000
S. 38 – 42. [11]Aus der umfänglichen Literatur zum Thema Enthellenisierung möchte
ich besonders nennen A. Grillmeier, Hellenisierung – Judaisierung des Christentums
als Deuteprinzipien der Geschichte des kirchlichen Dogmas, in: ders., Mit ihm und
in ihm. Christologische Forschungen und Perspektiven. Freiburg 1975 S. 423 – 488. [12]Neu
herausgegeben und kommentiert von Heino Sonnemans (Hrsg.): Joseph Ratzinger – Benedikt
XVI., Der Gott des Glaubens und der Gott der Philosophen. Ein Beitrag zum Problem
der theologia naturalis. Johannes-Verlag Leutesdorf, 2. ergänzte Auflage 2005. [13]90
c – d. Vgl. zu diesem Text R. Guardini, Der Tod des Sokrates. Mainz – Paderborn 19875
S. 218 – 221.