In der Hauptstadt
Sucre läuft seit gut einer Woche die erste Verfassungsgebende Versammlung. Innerhalb
eines Jahres soll sie ein neues Grundgesetz erarbeiten. Die Bevölkerung muss anschließend
darüber abstimmen. Zur Eröffnungszeremonie kamen rund 30.000 Menschen. Die Versammlung
hat 225 Abgeordnete, und die Mehrheit ist indianischer Abstammung. Wie der Präsident
Evo Morales. Der hat eine eine "Neugründung" des Landes und eine Abkehr von "neoliberalen
Gesetzen" angekündigt. Darüber haben wir mit dem Jesuiten René Cardozo gesprochen,
Politologe und Soziologe in Cochabamba: "In Bolivien registriert man gerade
ein neues, interessantes Phänomen, das alles verändert: die politischen, die wirtschaftlichen
und die sozialen Verhältnisse. Dabei muss man sofort feststellen, dass eine Haupteigenschaft
der neuen Regierung ihre ethnisch-kulturelle Ausrichtung ist, sie ist sozusagen "indigenisch".
Damit identifiziert sich vor allem der Präsident. Die Regierung war schon während
des Wahlkampfes um Ausgleich bemüht, wollte dieser stark ethnische Ausrichtung eine
eher intellektuelle, universitäre Komponente der Mittelschicht hinzufügen." Diese
Linie verkörpert die linksgerichtete Vizepräsidentin Garcia Linera. Doch der Jesuit
warnt vor Schubladendenken. Linera die Denkerin, Morales der Bauer. So einfach sei
es nicht: "Diese Spaltung entspricht nicht der Realität, sie ist rein schematisch.
Meiner Meinung nach hat Garcia Linera ein markantes intellektuelles und akademisches
Profil, aber genauso hat auch Morales seine politischen wie sozialen Pläne, die er
zu koordinieren weiß.“ Bolivien müsse seinen Weg finden zwischen neoliberalen
Tendenzen auf der einen und kommunistischen Ideen auf der anderen Seite. Von den Spannungen
und Wortgefechten zwischen Präsident und Kirche der vergangenen Monate hält Pater
Cardozo nichts: „Derzeit liegen keinerlei Fakten auf dem Tisch, die die Hypothese
eines Ausschlusses der Kirche rechtfertigen würden; noch viel weniger die eines zukünftig
atheistischen Staates oder eines politischen Systems, das das Heilige an den Rand
drängen oder unterdrücken will. Man muss jetzt Beziehungen aufbauen, in denen die
katholische Kirche akzeptiert, dass sie nicht mehr die alleinige Heilsbringerin ist,
dass sie ihre Mission in Mitten anderer Gruppen und Kirchen verfolgen muss, zwischen
neuen Gruppierungen, die ähnliche Eigenschaften haben. Die Kirche muss akzeptieren,
dass sie einen Staat gegenüber hat, der nicht mehr ausschließlich als katholisch bezeichnet
werden kann, der vielmehr eine Neutralität annehmen muss, die typisch für moderne
Staaten ist.“