2006-08-13 19:09:55

Sonntagsbetrachtung: Simone Weil in die Feder geschrieben
Von Pater Max Cappabianca OP


Evangelium (Joh 6, 41-51) 19. Sonntag im Jahreskreis B
„Ich bin das lebendige Brot, das vom Himmel herabgekommen ist“
RealAudioMP3 „Herzversagen durch Herzmuskelschwäche, hervorgerufen durch mangelhafte Ernährung und Lungentuberkulose. Die Verstorbene hat sich selbst getötet und zerstört, in dem sie sich in einer Phase von Geistesgestörtheit weigerte zu essen.“ Das hat der Arzt in seiner
Diagnose geschrieben, als er meinen Tod zu untersuchen hatte. 34 Jahre alt war ich, als am 24. August 1943 im englischen Exil starb.


Geistesgestört! Ich – Simone Weil, Tochter säkularisierter Juden geboren 1909 in Paris? Nein, wahrlich nicht! Auch wenn ich manchmal glaubte, an der Welt irre zu werden. Ich habe einmal in meinem Cahier – meinem Tagebuch – notiert: „So wie die allgemeine und dauernde Lage der Menschheit in dieser Welt aussieht, ist es vielleicht immer ein Betrug, sich satt zu essen. (Ich habe ihn oft begangen).“


Satt essen in einer Welt, in der so viele hungern nach Brot, nach Gerechtigkeit nach Frieden…
Ja – vielleicht bin ich wirklich an der Realität dieser Welt zerbrochen. Ich konnte die Widersprüche dieser Welt nicht ertragen. Ich konnte sie vielleicht auch deswegen nicht ertragen, weil ich ahnte… weil ich es erfahren hatte, dass es mehr gibt – mehr als das Zuhandende, mehr als das fehlende Brot, mehr als Leid, mehr als die Banalität dieser Welt.


Doch eins nach dem anderen: Meine Eltern waren zwar Juden, aber sie hatten eigentlich nichts mit dem Glauben ihrer Vorfahren zu tun. Gott war bei uns kein Thema. Und mich hat es deswegen auch nicht interessiert!
Aber alles Philosophische faszinierte mich. Schon als Mädchen habe ich immer gerne mit meinem älteren Bruder André diskutiert. Er war klug und er nahm mich ernst in meinen Fragen. Später war es dann ein Philosophielehrer, der mich gelehrt hat, zu hinterfragen und vorurteilsfrei die Wahrheit zu suchen.


Je mehr ich aufmerksam wahrnahm, wie die Welt wirklich ist, desto mehr habe ich mich gefragt: ‚Warum tut eigentlich keiner was?!’ Das war jedenfalls mein Gefühl, als ich sah, wie die Menschen in den dreißiger Jahren leben mussten. Der Erste Weltkrieg war noch nicht lange vorbei, und immer noch hegten die Menschen Groll. Die Politiker wussten die wirtschaftliche Not für ihre Zwecke zu mißbrauchen. Und so steigerte sich der Hass aufeinander immer mehr: egal ob in Deutschland, Frankreich oder im spanischen Bürgerkrieg!
Ich wollte etwas dagegen tun und wurde Pazifistin in der Liga der Menschenrechte.


Auch die Lage der Arbeiter ließ mir keine Ruhe. Es war doch klar, dass diese Menschen leicht jeder Demagogie zum Opfer fielen, wenn man sieht, wie sie leben und arbeiten mussten, wenn man das überhaupt als Leben bezeichnen kann. Ich habe deswegen in kommunistischen Zeitschriften geschrieben und mich in der Gewerkschaftsbewegung engagiert.
Mein Vater war ja Arzt, ich kam also aus „gutem Hause“. Trotzdem wollte ich den Arbeitern nicht fremd bleiben. Also bin ich dann ab 1933 selber in die Fabrik gegangen, um als einfache Arbeiterin dort meinen Lebensunterhalt zu verdienen.


Im Rückblick muss ich sagen: Es war eine schrecklich Zeit, und zugleich eine Zeit, die mich unendlich viel gelehrt hat! Diese Erniedrigung, dieser ohnmächtige Zorn… Eine moderne Form der Sklaverei! Es gab auch gute Menschen dort, aber letztlich wird man durch Fabrikarbeit doch irgendwie selber zur Maschine, zu Materie. Es ist wie ein partieller Tod…


Ich musste nach einigen Jahren mit der Arbeit aufhören. Denn ich wurde krank – aber ich glaube, dass mir diese Erfahrung die Augen geöffnet hat.


Mir sind dann einige Dinge passiert, die mich ziemlich erschüttert haben. Ich weiß nicht, wie ich’s sagen soll. In Portugal war ich in einem Fischerdorf. Ein Marienfest wurde gefeiert und ich sah die Menschen in einer Prozession durch den Ort ziehen: Da war mir klar, dass das Christentum die Religion der Sklaven ist und gar nicht anders können, als ihr anzuhängen. Später hatte ich in Assisi ein Erlebnis, das ich sogar mystisch nennen würde. Und in Solesmes, bei den Gesängen der Mönche, ahnte ich etwas von der Schönheit, die verborgenerweise in dieser miserablen Welt gegenwärtig ist.


„Schauen und Warten ist das Verhalten, das dem Schönen angemessen ist. Solange man noch vorstellen, wollen, wünschen kann, erscheint das Schöne nicht.“



Regungslos verharren und sich mit dem vereinigen, was man begehrt und dem man nicht näher kommt. Derart ist die Vereinigung mit Gott: man kann sich ihm nicht nähern. Der Abstand ist die Seele des Schönen.“

Portugal, Assisi und Solesmes: Das waren Berührungen mit dem Christentum, die wahrhaft zählten. Über diese Dinge konnte ich mich eigentlich nur mit einem Menschen so richtig unterhalten: mit dem Dominikaner-Pater Joseph-Marie Perrin. Er war blind und von einer unendlichen Weisheit. Ich schrieb an ihn in meinem Abschiedsbrief, als ich 1940 vor dem Einmarsch der Deutschen in Paris fliehen mußte: „Wenn ich Ihnen nicht begegnet wäre, hätte ich mir das Problem der Taufe als ein praktisches Problem niemals gestellt.“

Er verstand mein Suchen, meine Sehnsucht nach Einheit, Schönheit und Freiheit. In langen Gesprächen und Briefen haben wir religiös miteinander gerungen, so zum Beispiel über die Sakramente. Sie sind für mich „wie Erinnerungen – Gegenstände, die Erinnerungen darstellen – an geliebte und verstorbene Menschen. Der Brief eines geliebten und verstorbenen Menschen, ein Ring, ein Buch, irgendein Gegenstand, der ihm gehört hat, stellen wirkliche Berührungen mit ihm dar, wirkliche, einzigartige, unersetzliche Berührungen.“


Deswegen fasziniert mich auch das heutige Evangelium so sehr, wo Jesus einen so ungeheuerlichen Satz sagt: „Ich bin das Brot des Lebens.“


Für mich war das „Essen“ immer das „Zerstören von etwas. Hier sagt der Mensch Jesus von sich selber: Iss mich! – denn ich bin das Brot, und zwar das Brot des Lebens! Indem Jesus sich verzehren lässt, schenkt er uns das Leben.„Das Brot, das ich geben werde, ist mein Fleisch, ich gebe es hin für das Leben der Welt.“, sagt Jesus.(Joh 6) Das ist für mich nichts Abstraktes – das wurde für mich immer mehr zur Wahrheit auch meines Lebens. Auch wenn ich mich am Ende zu Tode gehungert habe!


Trotzdem blieb diese Wahrheit – Zeit meines Lebens – eine gebrochene Wahrheit. Ich habe mich niemals taufen lassen. Zu sehr schien mir die konkrete Kirche mit ihrem Triumphalismus allzu fragwürdig. Vielleicht war es aber auch meine Berufung, außerhalb der Kirche Christ zu sein – wie so viele Menschen heute. Im Aushalten der unlösbaren Schwierigkeiten dieser Welt - unverwandt, unermüdlich, Jahre hindurch, ohne jede Hoffnung, im Warten.


Das ist es, was ich den Menschen heut mitgeben möchte: Haltet die Wirklichkeit aus, aber zerbrecht nicht an ihr. „Entdeckt im Staub des Alltagslebens das Korn der Reinheit“ – Seid aufmerksam und verschließt nicht die Augen. Aufmerksamkeit für die Wirklichkeit: Das ist der Schlüssel!
Und wenn Du Christ bist, dann öffne die Augen für die Wirklichkeit des gebrochenen Brotes. Durch das Sakrament der Eucharistie begegnest Du wirklich dem Menschen, der von sich gesagt hat, er sei das Brot des Lebens. Lass ihn zum Brot Deines Lebens werden.


P. Max. I. Cappabianca OP

Quellen:
Cornelius Hell: Simone Weil, linke Denkerin, ungetaufte „katholische“ Mystikerin – lebte radikal und in Extremen, in: Die Furche vom 22.08.2003.
Dorothee Seelhöfer: Art. Simone Weil, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Band XIII (1998), Spalten 605-613.
Internetseite des „Lehrhauses für Psychologie und Spiritualität, Institut Simone Weil“ www.lehrhaus.de








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