Sonntagsbetrachtung: Simone Weil in die Feder geschrieben Von Pater Max Cappabianca
OP
Evangelium (Joh 6, 41-51) 19. Sonntag im Jahreskreis B „Ich bin das lebendige
Brot, das vom Himmel herabgekommen ist“ „Herzversagen
durch Herzmuskelschwäche, hervorgerufen durch mangelhafte Ernährung und Lungentuberkulose.
Die Verstorbene hat sich selbst getötet und zerstört, in dem sie sich in einer Phase
von Geistesgestörtheit weigerte zu essen.“ Das hat der Arzt in seiner Diagnose
geschrieben, als er meinen Tod zu untersuchen hatte. 34 Jahre alt war ich, als am
24. August 1943 im englischen Exil starb.
Geistesgestört! Ich – Simone
Weil, Tochter säkularisierter Juden geboren 1909 in Paris? Nein, wahrlich nicht! Auch
wenn ich manchmal glaubte, an der Welt irre zu werden. Ich habe einmal in meinem Cahier
– meinem Tagebuch – notiert: „So wie die allgemeine und dauernde Lage der Menschheit
in dieser Welt aussieht, ist es vielleicht immer ein Betrug, sich satt zu essen. (Ich
habe ihn oft begangen).“
Satt essen in einer Welt, in der so viele hungern
nach Brot, nach Gerechtigkeit nach Frieden… Ja – vielleicht bin ich wirklich
an der Realität dieser Welt zerbrochen. Ich konnte die Widersprüche dieser Welt nicht
ertragen. Ich konnte sie vielleicht auch deswegen nicht ertragen, weil ich ahnte…
weil ich es erfahren hatte, dass es mehr gibt – mehr als das Zuhandende,
mehr als das fehlende Brot, mehr als Leid, mehr als die Banalität dieser Welt.
Doch
eins nach dem anderen: Meine Eltern waren zwar Juden, aber sie hatten eigentlich nichts
mit dem Glauben ihrer Vorfahren zu tun. Gott war bei uns kein Thema. Und mich hat
es deswegen auch nicht interessiert! Aber alles Philosophische faszinierte mich.
Schon als Mädchen habe ich immer gerne mit meinem älteren Bruder André diskutiert.
Er war klug und er nahm mich ernst in meinen Fragen. Später war es dann ein Philosophielehrer,
der mich gelehrt hat, zu hinterfragen und vorurteilsfrei die Wahrheit zu suchen.
Je
mehr ich aufmerksam wahrnahm, wie die Welt wirklich ist, desto mehr habe ich mich
gefragt: ‚Warum tut eigentlich keiner was?!’ Das war jedenfalls mein Gefühl, als ich
sah, wie die Menschen in den dreißiger Jahren leben mussten. Der Erste Weltkrieg war
noch nicht lange vorbei, und immer noch hegten die Menschen Groll. Die Politiker wussten
die wirtschaftliche Not für ihre Zwecke zu mißbrauchen. Und so steigerte sich der
Hass aufeinander immer mehr: egal ob in Deutschland, Frankreich oder im spanischen
Bürgerkrieg! Ich wollte etwas dagegen tun und wurde Pazifistin in der Liga der
Menschenrechte.
Auch die Lage der Arbeiter ließ mir keine Ruhe. Es war
doch klar, dass diese Menschen leicht jeder Demagogie zum Opfer fielen, wenn man sieht,
wie sie leben und arbeiten mussten, wenn man das überhaupt als Leben bezeichnen kann.
Ich habe deswegen in kommunistischen Zeitschriften geschrieben und mich in der Gewerkschaftsbewegung
engagiert. Mein Vater war ja Arzt, ich kam also aus „gutem Hause“. Trotzdem wollte
ich den Arbeitern nicht fremd bleiben. Also bin ich dann ab 1933 selber in die Fabrik
gegangen, um als einfache Arbeiterin dort meinen Lebensunterhalt zu verdienen.
Im
Rückblick muss ich sagen: Es war eine schrecklich Zeit, und zugleich eine Zeit, die
mich unendlich viel gelehrt hat! Diese Erniedrigung, dieser ohnmächtige Zorn… Eine
moderne Form der Sklaverei! Es gab auch gute Menschen dort, aber letztlich wird man
durch Fabrikarbeit doch irgendwie selber zur Maschine, zu Materie. Es ist wie ein
partieller Tod…
Ich musste nach einigen Jahren mit der Arbeit aufhören.
Denn ich wurde krank – aber ich glaube, dass mir diese Erfahrung die Augen geöffnet
hat.
Mir sind dann einige Dinge passiert, die mich ziemlich erschüttert
haben. Ich weiß nicht, wie ich’s sagen soll. In Portugal war ich in einem Fischerdorf.
Ein Marienfest wurde gefeiert und ich sah die Menschen in einer Prozession durch den
Ort ziehen: Da war mir klar, dass das Christentum die Religion der Sklaven ist und
gar nicht anders können, als ihr anzuhängen. Später hatte ich in Assisi ein Erlebnis,
das ich sogar mystisch nennen würde. Und in Solesmes, bei den Gesängen der Mönche,
ahnte ich etwas von der Schönheit, die verborgenerweise in dieser miserablen Welt
gegenwärtig ist.
„Schauen und Warten ist das Verhalten, das dem Schönen
angemessen ist. Solange man noch vorstellen, wollen, wünschen kann, erscheint das
Schöne nicht.“
Regungslos verharren und sich mit dem vereinigen,
was man begehrt und dem man nicht näher kommt. Derart ist die Vereinigung mit Gott:
man kann sich ihm nicht nähern. Der Abstand ist die Seele des Schönen.“
Portugal,
Assisi und Solesmes: Das waren Berührungen mit dem Christentum, die wahrhaft zählten.
Über diese Dinge konnte ich mich eigentlich nur mit einem Menschen so richtig unterhalten:
mit dem Dominikaner-Pater Joseph-Marie Perrin. Er war blind und von einer unendlichen
Weisheit. Ich schrieb an ihn in meinem Abschiedsbrief, als ich 1940 vor dem Einmarsch
der Deutschen in Paris fliehen mußte: „Wenn ich Ihnen nicht begegnet wäre, hätte
ich mir das Problem der Taufe als ein praktisches Problem niemals gestellt.“
Er
verstand mein Suchen, meine Sehnsucht nach Einheit, Schönheit und Freiheit. In langen
Gesprächen und Briefen haben wir religiös miteinander gerungen, so zum Beispiel über
die Sakramente. Sie sind für mich „wie Erinnerungen – Gegenstände, die Erinnerungen
darstellen – an geliebte und verstorbene Menschen. Der Brief eines geliebten und verstorbenen
Menschen, ein Ring, ein Buch, irgendein Gegenstand, der ihm gehört hat, stellen wirkliche
Berührungen mit ihm dar, wirkliche, einzigartige, unersetzliche Berührungen.“
Deswegen
fasziniert mich auch das heutige Evangelium so sehr, wo Jesus einen so ungeheuerlichen
Satz sagt: „Ich bin das Brot des Lebens.“
Für mich war das „Essen“ immer
das „Zerstören von etwas. Hier sagt der Mensch Jesus von sich selber: Iss mich! –
denn ich bin das Brot, und zwar das Brot des Lebens! Indem Jesus sich verzehren lässt,
schenkt er uns das Leben.„Das Brot, das ich geben werde, ist mein Fleisch, ich
gebe es hin für das Leben der Welt.“, sagt Jesus.(Joh 6) Das ist für mich nichts
Abstraktes – das wurde für mich immer mehr zur Wahrheit auch meines Lebens.
Auch wenn ich mich am Ende zu Tode gehungert habe!
Trotzdem blieb diese
Wahrheit – Zeit meines Lebens – eine gebrochene Wahrheit. Ich habe mich niemals taufen
lassen. Zu sehr schien mir die konkrete Kirche mit ihrem Triumphalismus allzu fragwürdig.
Vielleicht war es aber auch meine Berufung, außerhalb der Kirche Christ zu sein –
wie so viele Menschen heute. Im Aushalten der unlösbaren Schwierigkeiten dieser Welt
- unverwandt, unermüdlich, Jahre hindurch, ohne jede Hoffnung, im Warten.
Das
ist es, was ich den Menschen heut mitgeben möchte: Haltet die Wirklichkeit aus, aber
zerbrecht nicht an ihr. „Entdeckt im Staub des Alltagslebens das Korn der Reinheit“
– Seid aufmerksam und verschließt nicht die Augen. Aufmerksamkeit für die Wirklichkeit:
Das ist der Schlüssel! Und wenn Du Christ bist, dann öffne die Augen für die Wirklichkeit
des gebrochenen Brotes. Durch das Sakrament der Eucharistie begegnest Du wirklich
dem Menschen, der von sich gesagt hat, er sei das Brot des Lebens. Lass ihn zum Brot
Deines Lebens werden.
P. Max. I. Cappabianca OP
Quellen: Cornelius
Hell: Simone Weil, linke Denkerin, ungetaufte „katholische“ Mystikerin – lebte radikal
und in Extremen, in: Die Furche vom 22.08.2003. Dorothee Seelhöfer: Art. Simone
Weil, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Band XIII (1998), Spalten
605-613. Internetseite des „Lehrhauses für Psychologie und Spiritualität, Institut
Simone Weil“ www.lehrhaus.de