2006-07-06 13:07:15

Dokument: Ansprache von Kard. Poupard in Moskau


Wir geben hier den deutschen Text der Ansprache wieder, die Kardinal Paul Poupard, Präsident des Päpstlichen Rates für den interreligiösen Dialog und des Päpstlichen Rates für die Kultur, vor rund 200 Repräsentanten der großen Weltreligionen in der russischen Hauptstadt Moskau gehalten hat. Das dreitägige "Gipfeltreffen der Religionsführer", zu dem der russisch-orthodoxe Patriarch von Moskau eingeladen hatte, ging gestern zu Ende. Die Übersetzung des Textes stammt von der Nachrichtenagentur Zenit und fußt auf dem französisch-sprachigen Original.



In seiner Ansprache nannte Kardinal Poupard die größten Herausforderungen, die die Globalisierung heute mit sich bringt, und bekräftigte, dass eine menschenwürdige Gesellschaft nur dann entstehen könne, wenn "die Männer und Frauen unserer Tage gegenüber den universellen menschlichen Werten nicht gleichgültig werden. Deshalb achten wir auf alles, was die Weitergabe dieser Werte behindern könnte. Der wichtigste dieser Werte ist vor allem die Achtung der Menschenwürde, der Würde des Menschen als Ganzes und eines jeden Menschen, weil die von Gott geschaffene menschliche Person die Grundlage des gesellschaftlichen Lebens darstellt."



In Bezug auf die hohe Kinderlosigkeit in Europa und anderen Teilen der Welt sagte der Kurienkardinal: "Eine beträchtliche Anzahl von Ländern befindet sich bereits in der Phase des demographischen Selbstmords. Diese Länder haben augenscheinlich den Sinn für die Heiligkeit des Lebens verloren und beschließen gesetzliche Verordnungen, die die Ehe entstellen und die Familie – die grundlegende Zelle der Gesellschaft – ins Wanken bringen. Auf diese Weise bereiten sie den Weg für ein noch ernsthafteres Ungleichgewicht und eine noch düstere Zukunft."


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1. Ich habe die Ehre und die Freude, meine Stimme mit denen der anderen Mitglieder der Delegation der katholischen Kirche zu vereinen und Seiner Heiligkeit Patriarch Alexeij II. und dem Interreligiösen Rat von Russland für diese wichtige Initiative des Gipfeltreffens zu danken, das die Repräsentanten der großen Weltreligionen in dieser historischen Stadt zusammenführt.



Auf diese Weise ist es uns möglich, uns über unsere gemeinsamen Sorgen zu Beginn des dritten Jahrtausends auszutauschen und unsere gemeinsame Verpflichtung zu bezeugen, mit neuer Kraft an einem erwartungsfrohen interkulturellen und interreligiösen Dialog im Dienst eines ganzheitlichen und solidarischen Humanismus zusammenzuarbeiten.



Jeder ist dazu berufen, den ihm zukommenden Platz im Konzert der Nationen zu finden, in seiner ganzen menschlichen Fülle, die in der religiösen Dimension ihre Erfüllung findet. Zusammen wollen wir vor den Staatsmännern und den Bürgern der Welt nochmals die unersetzliche Aufgabe der Religionen beteuern, gerechtere Gesellschaften zu errichten, in denen Harmonie und Frieden regieren. Wir wollen hiermit unsere gemeinsamen Willen kundtun, den Dialog unter den Religionen und auch mit den zivilen und politischen Autoritäten zu stärken, eine jede im Bewusstsein ihrer Verantwortung.



2. Das wachsende Phänomen der Globalisierung stellt die Männer und Frauen unserer Zeit vor Herausforderungen, denen wir uns mutig stellen wollen. Der historische und kulturelle Kontext befindet sich in rascher Entwicklung und verursacht Veränderungen unterschiedlichen Ausmaßes, die zu Verhaltensänderungen führen. Das zugrunde liegende Ziel bleibt jedoch stets das gleiche: eine Gesellschaft zu errichten, die des Menschen würdig ist.



Dazu muss sichergestellt werden, dass die Männer und Frauen unserer Tage gegenüber den universellen menschlichen Werten nicht gleichgültig werden. Deshalb achten wir auf alles, was die Weitergabe dieser Werte behindern könnte. Der wichtigste dieser Werte ist vor allem die Achtung der Menschenwürde, der Würde des Menschen als Ganzes und eines jeden Menschen, weil die von Gott geschaffene menschliche Person die Grundlage des gesellschaftlichen Lebens darstellt.



Das beinhaltet die Achtung der religiösen Freiheit als ein grundsätzliches Recht der Person. Keiner Autorität ist es erlaubt, diese Freiheit zu verbieten. Im Gegenteil: Die Autoritäten besitzen die Pflicht, das Bekenntnis dieser Freiheit zu respektieren und ihre friedliche Ausübung immer und überall zu gewährleisten.



3. Als religiöse Führungspersönlichkeiten sind wir sehr besorgt hinsichtlich der Orientierung politischer Systeme, die in erster Linie – sehr zum Nachteil für Gerechtigkeit und Solidarität – auf wirtschaftliche Macht hin ausgerichtet sind, sowie hinsichtlich der Wertekrise, die über den Großteil der Weltbevölkerung hinwegfegt, besonders unter den Jugendlichen zu finden ist und dadurch die Zukunft der Menschheit ernsthaft in Frage stellt. Die Globalisierung kultureller Modelle, in denen jene Werte fehlen, die den Menschen menschlicher machen, begünstigt den Verlust der Identität weiter Teile unserer Gesellschaften, die in der künstlichen Gleichförmigkeit eines ökonomischen Modells mit universalen Ansprüchen versinken.



Die Frucht dieses Prozesses ist die Versuchung, sich allein auf sich selbst zu konzentrieren: Das Gefühl der Ungerechtigkeit, das aufgrund des Fehlens von gerechter Güteraufteilung aufkommt, sowie die Hoffnungslosigkeit über eine Kultur, die ihre wichtigsten Grundsätze und ethischen Bezugspunkte verliert, können zu Verdruss führen und sich in Gewaltakten unterschiedlichster Art entladen, also auch im Terrorismus, den wir mit Worten von Papst Johannes Paul II. entschieden verurteilen: "Hass, Fanatismus und Terrorismus profanieren den Namen Gottes und entstellen das wahre Bild des Menschen."



4. Angesichts des Aufkommens des Fundamentalismus, der durch die Demütigung einiger Gläubigen anwächst, wenn diese ihrer kulturellen und religiösen Rechte beraubt werden; angesichts der Auswirkungen des Kommunitarismus, der aufgrund des Unbehagens einiger Gruppen in einer unausgeglichenen Welt entsteht, und angesichts der Risiken einer unmenschlichen Anwendung einiger wissenschaftlicher und technischer Entwicklungen möchten wir die Alarmglocke läuten: Auch hier handelt es sich um Herausforderungen, die dringend hinreichend und zutiefst menschlich beantwortet werden müssen, da unsere Gesellschaften sonst Gefahr laufen, Schiffbruch zu erleiden.



Eine beträchtliche Anzahl von Ländern befindet sich bereits in der Phase des demographischen Selbstmords. Diese Länder haben augenscheinlich den Sinn für die Heiligkeit des Lebens verloren und beschließen gesetzliche Verordnungen, die die Ehe entstellen und die Familie – die grundlegende Zelle der Gesellschaft – ins Wanken bringen. Auf diese Weise bereiten sie den Weg für ein noch ernsthafteres Ungleichgewicht und eine noch düstere Zukunft.



5. Für den europäischen Kontinent war das Christentum bislang stets der wichtigste Faktor für die Einheit unter den Völkern und ihren Kulturen. Zwei Jahrtausende lang hat es ununterbrochen eine ganzheitliche Vision des Menschen und seiner Rechte und Pflichten gefördert. Die Geschichte vieler Nationen gibt Zeugnis von seiner außerordentlichen kulturellen Fruchtbarkeit. Die katholische Kirche nimmt entschieden am interkulturellen und interreligiösen Dialog teil, im Bewusstsein um die unersetzbare Funktion der Religionen zur Vermenschlichung der Gesellschaft sowie ihrer Fähigkeit, im Herzen der Gesellschaft als Sauerteig zu wirken, um zwischen den Völkern und ihren Kulturen den Austausch in Bezug auf die höchsten Werte zu bereichern, ohne die der Mensch zum Wolf für seine Mitmenschen würde.



Diese Werte sind die Achtung der Würde ausnahmslos aller Menschen – als Geschöpfe, die von Gott, ihrem Schöpfer, geliebt und gewollt und nach seinem Abbild geschaffen sind –; die Achtung der Gewissensfreiheit sowie das Recht, frei und öffentlich religiösen Kult zu betreiben, und das Bewusstsein der universalen Bestimmung des Menschen, gemeinsam eine Zivilisation der Liebe in Gerechtigkeit und Frieden zu errichten.



6. Jahrtausende lang haben Religionen bemerkenswert zur Entwicklung und zum Schutz des kulturellen Erbes der Menschheit beigetragen. In Anerkennung ihres Verdienstes für die schöpferische Fruchtbarkeit der Kultur erfordert dies, dass die verantwortlichen Autoritäten überall auf der Welt garantieren, dass heilige Objekte und Stätten weiterhin ihren Glauben ausdrücken und die Religionen von ihnen leben können.



In einer Welt des friedlichen Zusammenlebens und des Austausches von kulturellen, materiellen und immateriellen Gütern sind die Religionen offene Tore, die den Dialog, die Achtung der Unterschiedlichkeit und der Würde der menschlichen Person, die Liebe zur Wahrheit sowie das Bewusstsein lehren und leben können, zur einzigen großen Völkerfamilie zu gehören, die von Gott gewollt und dazu berufen ist, in gegenseitiger Liebe unter seiner Obhut zu leben. Die Geschichte zeigt, dass die Kirche durch ihre soziale und religiöse Lehre aktiv und maßgeblich zu einem verstärkten sozialen Zusammenhalt beigetragen hat.



7. Der Heilige Stuhl will das moderne Bedürfnisse einer gerechten Laizität des Staates in all ihren religiösen und säkularen Komponenten würdigen, zugleich aber vor den reduzierenden Ausdrucksformen des Laizismus warnen, die hinter einigen politischen Strömungen zu erkennen sind. Es ist daher der Wunsch des Heiligen Stuhls, nochmals der Bereitschaft und der Fähigkeit von Religionen Ausdruck zu verleihen, an der Errichtung humaner Gemeinschaften mitzuwirken. Religionen können bei der Herausforderung des Auseinanderbrechens des sozialen Gefüges mit konkreten Hilfsmitteln Abhilfe schaffen und der Jugend ein Ideal vor Augen führen und ihr einen Sinn im Leben und in der Geschichte geben.



Meine Schlussfolgerung möchte ich mit den Worten des Metropoliten Kyrill von Smolensk und Kaliningrad wiedergeben: "Die Krise, in die die Menschheit durch die Globalisierung hineingeführt wird, kann nur durch das gemeinschaftliche Bestreben aller Gläubigen und aller Menschen guten Willens im Bereich der ethischen Formung der Person und durch die Schaffung einer gerechten Grundlage für das Zusammenleben der Menschen verhindert werden" (Metropolit Kyrill, "L'Évangile et la liberté. Les valeurs de la Tradition dans la société laïque", 239).
(Quelle/Übersetzung: Zenit 06.07.06 sk)








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