Wir geben hier den deutschen Text der Ansprache wieder, die Kardinal Paul Poupard,
Präsident des Päpstlichen Rates für den interreligiösen Dialog und des Päpstlichen
Rates für die Kultur, vor rund 200 Repräsentanten der großen Weltreligionen in der
russischen Hauptstadt Moskau gehalten hat. Das dreitägige "Gipfeltreffen der Religionsführer",
zu dem der russisch-orthodoxe Patriarch von Moskau eingeladen hatte, ging gestern
zu Ende. Die Übersetzung des Textes stammt von der Nachrichtenagentur Zenit und fußt
auf dem französisch-sprachigen Original.
In seiner Ansprache nannte
Kardinal Poupard die größten Herausforderungen, die die Globalisierung heute mit sich
bringt, und bekräftigte, dass eine menschenwürdige Gesellschaft nur dann entstehen
könne, wenn "die Männer und Frauen unserer Tage gegenüber den universellen menschlichen
Werten nicht gleichgültig werden. Deshalb achten wir auf alles, was die Weitergabe
dieser Werte behindern könnte. Der wichtigste dieser Werte ist vor allem die Achtung
der Menschenwürde, der Würde des Menschen als Ganzes und eines jeden Menschen, weil
die von Gott geschaffene menschliche Person die Grundlage des gesellschaftlichen Lebens
darstellt."
In Bezug auf die hohe Kinderlosigkeit in Europa und anderen
Teilen der Welt sagte der Kurienkardinal: "Eine beträchtliche Anzahl von Ländern befindet
sich bereits in der Phase des demographischen Selbstmords. Diese Länder haben augenscheinlich
den Sinn für die Heiligkeit des Lebens verloren und beschließen gesetzliche Verordnungen,
die die Ehe entstellen und die Familie – die grundlegende Zelle der Gesellschaft –
ins Wanken bringen. Auf diese Weise bereiten sie den Weg für ein noch ernsthafteres
Ungleichgewicht und eine noch düstere Zukunft."
* * *
1.
Ich habe die Ehre und die Freude, meine Stimme mit denen der anderen Mitglieder der
Delegation der katholischen Kirche zu vereinen und Seiner Heiligkeit Patriarch Alexeij
II. und dem Interreligiösen Rat von Russland für diese wichtige Initiative des Gipfeltreffens
zu danken, das die Repräsentanten der großen Weltreligionen in dieser historischen
Stadt zusammenführt.
Auf diese Weise ist es uns möglich, uns über
unsere gemeinsamen Sorgen zu Beginn des dritten Jahrtausends auszutauschen und unsere
gemeinsame Verpflichtung zu bezeugen, mit neuer Kraft an einem erwartungsfrohen interkulturellen
und interreligiösen Dialog im Dienst eines ganzheitlichen und solidarischen Humanismus
zusammenzuarbeiten.
Jeder ist dazu berufen, den ihm zukommenden Platz
im Konzert der Nationen zu finden, in seiner ganzen menschlichen Fülle, die in der
religiösen Dimension ihre Erfüllung findet. Zusammen wollen wir vor den Staatsmännern
und den Bürgern der Welt nochmals die unersetzliche Aufgabe der Religionen beteuern,
gerechtere Gesellschaften zu errichten, in denen Harmonie und Frieden regieren. Wir
wollen hiermit unsere gemeinsamen Willen kundtun, den Dialog unter den Religionen
und auch mit den zivilen und politischen Autoritäten zu stärken, eine jede im Bewusstsein
ihrer Verantwortung.
2. Das wachsende Phänomen der Globalisierung
stellt die Männer und Frauen unserer Zeit vor Herausforderungen, denen wir uns mutig
stellen wollen. Der historische und kulturelle Kontext befindet sich in rascher Entwicklung
und verursacht Veränderungen unterschiedlichen Ausmaßes, die zu Verhaltensänderungen
führen. Das zugrunde liegende Ziel bleibt jedoch stets das gleiche: eine Gesellschaft
zu errichten, die des Menschen würdig ist.
Dazu muss sichergestellt
werden, dass die Männer und Frauen unserer Tage gegenüber den universellen menschlichen
Werten nicht gleichgültig werden. Deshalb achten wir auf alles, was die Weitergabe
dieser Werte behindern könnte. Der wichtigste dieser Werte ist vor allem die Achtung
der Menschenwürde, der Würde des Menschen als Ganzes und eines jeden Menschen, weil
die von Gott geschaffene menschliche Person die Grundlage des gesellschaftlichen Lebens
darstellt.
Das beinhaltet die Achtung der religiösen Freiheit als
ein grundsätzliches Recht der Person. Keiner Autorität ist es erlaubt, diese Freiheit
zu verbieten. Im Gegenteil: Die Autoritäten besitzen die Pflicht, das Bekenntnis dieser
Freiheit zu respektieren und ihre friedliche Ausübung immer und überall zu gewährleisten.
3. Als religiöse Führungspersönlichkeiten sind wir sehr besorgt hinsichtlich
der Orientierung politischer Systeme, die in erster Linie – sehr zum Nachteil für
Gerechtigkeit und Solidarität – auf wirtschaftliche Macht hin ausgerichtet sind, sowie
hinsichtlich der Wertekrise, die über den Großteil der Weltbevölkerung hinwegfegt,
besonders unter den Jugendlichen zu finden ist und dadurch die Zukunft der Menschheit
ernsthaft in Frage stellt. Die Globalisierung kultureller Modelle, in denen jene Werte
fehlen, die den Menschen menschlicher machen, begünstigt den Verlust der Identität
weiter Teile unserer Gesellschaften, die in der künstlichen Gleichförmigkeit eines
ökonomischen Modells mit universalen Ansprüchen versinken.
Die Frucht
dieses Prozesses ist die Versuchung, sich allein auf sich selbst zu konzentrieren:
Das Gefühl der Ungerechtigkeit, das aufgrund des Fehlens von gerechter Güteraufteilung
aufkommt, sowie die Hoffnungslosigkeit über eine Kultur, die ihre wichtigsten Grundsätze
und ethischen Bezugspunkte verliert, können zu Verdruss führen und sich in Gewaltakten
unterschiedlichster Art entladen, also auch im Terrorismus, den wir mit Worten von
Papst Johannes Paul II. entschieden verurteilen: "Hass, Fanatismus und Terrorismus
profanieren den Namen Gottes und entstellen das wahre Bild des Menschen."
4.
Angesichts des Aufkommens des Fundamentalismus, der durch die Demütigung einiger Gläubigen
anwächst, wenn diese ihrer kulturellen und religiösen Rechte beraubt werden; angesichts
der Auswirkungen des Kommunitarismus, der aufgrund des Unbehagens einiger Gruppen
in einer unausgeglichenen Welt entsteht, und angesichts der Risiken einer unmenschlichen
Anwendung einiger wissenschaftlicher und technischer Entwicklungen möchten wir die
Alarmglocke läuten: Auch hier handelt es sich um Herausforderungen, die dringend hinreichend
und zutiefst menschlich beantwortet werden müssen, da unsere Gesellschaften sonst
Gefahr laufen, Schiffbruch zu erleiden.
Eine beträchtliche Anzahl
von Ländern befindet sich bereits in der Phase des demographischen Selbstmords. Diese
Länder haben augenscheinlich den Sinn für die Heiligkeit des Lebens verloren und beschließen
gesetzliche Verordnungen, die die Ehe entstellen und die Familie – die grundlegende
Zelle der Gesellschaft – ins Wanken bringen. Auf diese Weise bereiten sie den Weg
für ein noch ernsthafteres Ungleichgewicht und eine noch düstere Zukunft.
5.
Für den europäischen Kontinent war das Christentum bislang stets der wichtigste Faktor
für die Einheit unter den Völkern und ihren Kulturen. Zwei Jahrtausende lang hat es
ununterbrochen eine ganzheitliche Vision des Menschen und seiner Rechte und Pflichten
gefördert. Die Geschichte vieler Nationen gibt Zeugnis von seiner außerordentlichen
kulturellen Fruchtbarkeit. Die katholische Kirche nimmt entschieden am interkulturellen
und interreligiösen Dialog teil, im Bewusstsein um die unersetzbare Funktion der Religionen
zur Vermenschlichung der Gesellschaft sowie ihrer Fähigkeit, im Herzen der Gesellschaft
als Sauerteig zu wirken, um zwischen den Völkern und ihren Kulturen den Austausch
in Bezug auf die höchsten Werte zu bereichern, ohne die der Mensch zum Wolf für seine
Mitmenschen würde.
Diese Werte sind die Achtung der Würde ausnahmslos
aller Menschen – als Geschöpfe, die von Gott, ihrem Schöpfer, geliebt und gewollt
und nach seinem Abbild geschaffen sind –; die Achtung der Gewissensfreiheit sowie
das Recht, frei und öffentlich religiösen Kult zu betreiben, und das Bewusstsein der
universalen Bestimmung des Menschen, gemeinsam eine Zivilisation der Liebe in Gerechtigkeit
und Frieden zu errichten.
6. Jahrtausende lang haben Religionen bemerkenswert
zur Entwicklung und zum Schutz des kulturellen Erbes der Menschheit beigetragen. In
Anerkennung ihres Verdienstes für die schöpferische Fruchtbarkeit der Kultur erfordert
dies, dass die verantwortlichen Autoritäten überall auf der Welt garantieren, dass
heilige Objekte und Stätten weiterhin ihren Glauben ausdrücken und die Religionen
von ihnen leben können.
In einer Welt des friedlichen Zusammenlebens
und des Austausches von kulturellen, materiellen und immateriellen Gütern sind die
Religionen offene Tore, die den Dialog, die Achtung der Unterschiedlichkeit und der
Würde der menschlichen Person, die Liebe zur Wahrheit sowie das Bewusstsein lehren
und leben können, zur einzigen großen Völkerfamilie zu gehören, die von Gott gewollt
und dazu berufen ist, in gegenseitiger Liebe unter seiner Obhut zu leben. Die Geschichte
zeigt, dass die Kirche durch ihre soziale und religiöse Lehre aktiv und maßgeblich
zu einem verstärkten sozialen Zusammenhalt beigetragen hat.
7. Der
Heilige Stuhl will das moderne Bedürfnisse einer gerechten Laizität des Staates in
all ihren religiösen und säkularen Komponenten würdigen, zugleich aber vor den reduzierenden
Ausdrucksformen des Laizismus warnen, die hinter einigen politischen Strömungen zu
erkennen sind. Es ist daher der Wunsch des Heiligen Stuhls, nochmals der Bereitschaft
und der Fähigkeit von Religionen Ausdruck zu verleihen, an der Errichtung humaner
Gemeinschaften mitzuwirken. Religionen können bei der Herausforderung des Auseinanderbrechens
des sozialen Gefüges mit konkreten Hilfsmitteln Abhilfe schaffen und der Jugend ein
Ideal vor Augen führen und ihr einen Sinn im Leben und in der Geschichte geben.
Meine
Schlussfolgerung möchte ich mit den Worten des Metropoliten Kyrill von Smolensk und
Kaliningrad wiedergeben: "Die Krise, in die die Menschheit durch die Globalisierung
hineingeführt wird, kann nur durch das gemeinschaftliche Bestreben aller Gläubigen
und aller Menschen guten Willens im Bereich der ethischen Formung der Person und durch
die Schaffung einer gerechten Grundlage für das Zusammenleben der Menschen verhindert
werden" (Metropolit Kyrill, "L'Évangile et la liberté. Les valeurs de la Tradition
dans la société laïque", 239). (Quelle/Übersetzung: Zenit 06.07.06 sk)