Frankreich: Lustiger, Jugend ist Opfer der Gesellschaftskrise
Elf Wochen nach Beginn
der Proteste gegen den Abbau des Kündigungsschutzes hat die französische Regierung
den Studenten und Gewerkschaften nachgegeben und die bereits beschlossene Lockerung
des Kündigungsschutzes für junge Arbeitnehmer zurückgenommen. Die Regelung werde "ersetzt"
durch Programme zur Förderung Jugendlicher "mit Problemen" auf dem Arbeitsmarkt, gab
Präsident Jacques Chirac in Paris bekannt. Wir haben darüber mit dem langjährigen
Pariser Erzbischof Kardinal Jean-Marie Lustiger gesprochen. Er hält den Streit um
die Arbeitsverträge nur für die Spitze des Eisbergs. Frankreich stecke in einer fundamentalen
Krise:
"Die Jugend ist zum ersten Opfer geworden. Sie nutzt diese nutzt
diese Revolten immer wieder und zeigt so, dass sie ein Erbe antreten muss, das sie
nicht verdient hat. Ich denke, dass die Krise dieser Tage nicht auf schnelle Art und
Weise gelöst werden kann. Die kurzfristigen Rezepte einer Politik, die nicht über
den Tag hinaus denkt, können ein derartiges Drama nicht bewältigen. Es braucht Jahrzehnte,
um die Moral des Volkes wieder herzustellen."
Die französische Gesellschaft
sei gespalten, so Lustiger :
"Meine persönliche Meinung: Wir müssen
in Frankreich den Preis bezahlen, den, so scheint es mir alle entwickelten Länder
zahlen müssen. Ich habe schon als ich vor 25 Jahren zum Erzbischof von Paris ernannt
worden bin gesagt, das Drama unserer Zeit ist, dass die Jugend vor den Toren unserer
Gesellschaft kampiert. Im Grunde hat sich im Laufe der vergangenen 30 oder 40 Jahre
die Gesellschaft grundlegend verändert, mit dem Effekt, dass die Jugend sich abspaltete.
Die natürliche Weitergabe der Kultur, der Werte, des Umgangs miteinander, des Verantwortungssinns
funktioniert sehr schlecht. Erziehung erfüllt in Frankreich nicht mehr die Aufgabe
der Wertevermittlung und der Kunst zu Leben."
Die Ursachen für die
Probleme der französischen Innenpolitik oder die Unruhen in der Gesellschaft lägen
tiefer:
"Ich denke, dass Frankreich, diese Krise auf sehr extreme Weise
lebt. Außerdem ist diese Abspaltung der Jugend sicher wichtiger als alles andere.
Zum Beispiel: Die Zerstörung der familiären Gemeinschaft. Die Familie hat nicht mehr
den gleichen Stellenwert wie vor 40 Jahren. Familie, Monogamie, Treue werden von der
Mehrheit als rückständig empfunden."