Schweiz: Theologin Hallensleben, "Kirche ist nicht leibfeindlich"
Papst Benedikt hat
mit seiner Enzyklika "Deus Caritas est" den Vorwurf an die Kirche, sie sei leibfeindlich,
entkräftet. Das glaubt die deutsche Theologin Barbara Hallensleben. Die in Fribourg
lehrende Dogmatikerin ist auch Mitglied in der Internationalen Theologischen Kommission
des Vatikans. Hier ist der Text ihres Interviews mit Radio Vatikan.
1. Kann
das Thema „Liebe" als Thema einer Antrittsenzyklika überraschen?
Im
Hinblick auf den Papst: Nein, es war damit zu rechnen, dass er etwas Wesentliches
ansprechen würde: aus seiner tiefen Theologie und einem wirklichen Drängen, den Menschen
etwas sagen zu wollen, was sie angeht und ihnen in ihrem Alltag als Christen hilft.
Meine eigene Erfahrung und die Erfahrung anderer, die in einer Audienz waren, ist:
Der Papst schaut die Menschen an, wenn er mit ihnen spricht. Es geht eine Wärme von
ihm aus. Von dieser Art ist auch die Enzyklika.
2. Wo ordnen Sie die Bedeutung
von „Deus Caritas est" ein?
In der Geschichte des Christentums
verbinden sich immer zwei Ausdrucksweisen: eine aufbauende und eine abgrenzende. Seit
der Kirchenspaltung der Reformationszeit hat in der Westkirche die abgrenzende Redeweise
den Vorrang gehabt. Daraus wurde eine konfessionelle, eine verurteilende Theologie.
Vor kurzem habe ich die Enzyklika „Humani generis" von Papst Pius XII. aus dem Jahre
1950 neu gelesen. Dort überwiegt die Abwehr des Irrtums, überall werden Angriffe auf
den Glauben und Irrlehren gesehen und verurteilt. Das II. Vatikanische Konzil hat
diese Einseitigkeit korrigiert und wieder den ursprünglichen Vorrang der aufbauenden
Sprechweise des Glaubens betont. In diesen Spuren geht Papst Benedikt XVI. entschieden
weiter. Die Theologie nennt das die doxologische Dimension des Glaubens: das Lob Gottes,
das Gebet, der Gottesdienst steht im Mittelpunkt. Das hat eine eminent ökumenische
Bedeutung: Wo wir den Ausdruck unseres Glaubens nicht mehr gegeneinander formulieren,
sondern gemeinsam die Mitte zu bezeugen versuchen, finden wir auch zur Einheit untereinander.
3.
Gelingt es seiner Enzyklika, den Vorwurf der Leibfeindlichkeit zu entkräften?
Der
erste Teil der Enzyklika greift eine theologische Debatte auf, die durch den lutherischen
Theologen Anders Nygren entfacht wurde, der in den 30er Jahren eine Studie mit dem
Titel „Eros und Agape" veröffentlichte. Darin ging es um die Frage, ob die erotische
Dimension im Christentum einen Platz hat oder ob die christliche Agape eine blutleere
Wirklichkeit in einer Sonderwelt, Nebenwelt, Gegenwelt darstellt. Die Enzyklika bietet
für diese Frage eine eigene, mutige Lösung, indem Eros und Agape als zusammengehörig
betrachtet werden, sogar in Gott selbst.
Den Vorwurf der Leibfeindlichkeit
kann man dadurch nicht ein für allemal entkräften. Das Wichtige ist, dass der Papst
zeigt, weshalb und wie die immer wieder auftauchende Leibfeindlichkeit aus der Mitte
des Glaubens selbst zu korrigieren ist. Der Papst geht nicht auf die viel diskutierten
Extremfälle ein, sondern erinnert an die Kostbarkeit meiner alltäglichen leibhaftigen
Existenz: Glauben wir, dass unser Leib an unserer Gottebenbildlichkeit teilhat, und
was heißt das? Wie wende ich mich leibhaft dem Menschen zu, der mir begegnet? Wie
schaue ich ihn an? Sehe ich im anderen „sein inneres Warten auf einen Gestus der Liebe"?,
wie der Papst an einer Stelle formuliert, die ganz unscheinbar ist, aber mich besonders
beeindruckt hat.
4. Wo liegt Papst Benedikts Auftrag an Kirchenleute bzw.
„an alle Christgläubigen"?
Man könnte am Ende fragen:
Brauche ich eigentlich den Papst, um mir zu sagen, dass die Liebe das Herz des Glaubens
und der Kirche ist? Und ich könnte spontan antworten: Nein, ich brauche ihn nicht,
denn jede Sonntagsmesse, jedes Gebet, jedes Lesen in der Heiligen Schrift enthält
ja dieselbe Inspiration. Auf der anderen Seite kann ich mich gerade darüber freuen:
Hier ist nicht ein Papst, der mich von oben herab belehrt oder mir Vorschriften in
diesem oder jenem Bereich machen will. Hier ist ein Papst, der mich in dem anspricht,
was wir alle mit ihm gemeinsam haben: unsere heutige Welt zu deuten und zu gestalten
im Licht der Liebe Gottes in Jesus Christus. Wir brauchen als Menschen immer eine
Vergewisserung im Wesentlichen, und wir sind froh, wenn jemand da ist, der das, was
uns im Tiefsten verbindet, ab und zu mit Bescheidenheit und zugleich mit Ernst ausspricht.
Gestern sagte mir am Telefon ein Pfarrer: Ein älterer Mann, nicht besonders kirchlich
gebunden, erzählte, dass er übermorgen zu einer schweren Operation ins Krankenhaus
müsse. Der Pfarrer antwortete spontan: Gut, dann komme ich morgen und gebe ihnen die
Krankensalbung. In demselben Moment war er über seine Kühnheit erschrocken, weil es
sich ja nicht um ein „gutes Gemeindemitglied" handelte. Doch es stellte sich heraus,
dass der Kranke dankbar zustimmte und sagte: Ich hätte selbst nicht daran gedacht
oder jedenfalls nicht gewagt, das auszusprechen. Aber es ist gut, dass Sie das gesagt
haben. Kommen Sie nur ... Der Papst will uns dazu ermutigen, das „Normale" mit Liebe
leibhaftig zu tun. Wenn wir das wagen, dann wird viel an Trägheit und Resignation
aus unseren Gemeinden verschwinden.