VON
PAPST BENEDIKT XVI. AN DIE BISCHÖFE, AN DIE PRIESTER UND DIAKONE, AN DIE GOTTGEWEIHTEN
PERSONEN UND AN ALLE CHRISTGLÄUBIGEN
ÜBER DIE CHRISTLICHE
LIEBE
EINFÜHRUNG
1. ,,Gott ist die Liebe, und
wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott, und Gott bleibt in ihm’’ (1 Joh 4,
16). In diesen Worten aus dem Ersten Johannesbrief ist die Mitte des christlichen
Glaubens, das christliche Gottesbild und auch das daraus folgende Bild des Menschen
und seines Weges in einzigartiger Klarheit ausgesprochen. Außerdem gibt uns Johannes
in demselben Vers auch sozusagen eine Formel der christlichen Existenz: ,,Wir haben
die Liebe erkannt, die Gott zu uns hat, und ihr geglaubt’’ (vgl. 4, 16). Wir
haben der Liebe geglaubt: So kann der Christ den Grundentscheid seines Lebens
ausdrücken. Am Anfang des Christseins steht nicht ein ethischer Entschluß oder eine
große Idee, sondern die Begegnung mit einem Ereignis, mit einer Person, die unserem
Leben einen neuen Horizont und damit seine entscheidende Richtung gibt. In seinem
Evangelium hatte Johannes dieses Ereignis mit den folgenden Worten ausgedrückt: ,,So
sehr hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der
an ihn glaubt ... das ewige Leben hat’’ (3, 16). Mit der Zentralität der Liebe hat
der christliche Glaube aufgenommen, was innere Mitte von Israels Glauben war, und
dieser Mitte zugleich eine neue Tiefe und Weite gegeben. Denn der gläubige Israelit
betet jeden Tag die Worte aus dem Buch Deuteronomium, in denen er das Zentrum
seiner Existenz zusammengefaßt weiß: ,,Höre, Israel! Jahwe, unser Gott, Jahwe ist
einzig. Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer
Seele und mit ganzer Kraft’’ (6, 4-5). Jesus hat dieses Gebot der Gottesliebe mit
demjenigen der Nächstenliebe aus dem Buch Levitikus: ,,Du sollst deinen Nächsten
lieben wie dich selbst’’ (19, 18) zu einem einzigen Auftrag zusammengeschlossen (vgl.
Mk 12, 29-31). Die Liebe ist nun dadurch, daß Gott uns zuerst geliebt hat (vgl.
1 Joh 4, 10), nicht mehr nur ein ,,Gebot’’, sondern Antwort auf das Geschenk des
Geliebtseins, mit dem Gott uns entgegengeht.
In einer Welt, in der mit
dem Namen Gottes bisweilen die Rache oder gar die Pflicht zu Haß und Gewalt verbunden
wird, ist dies eine Botschaft von hoher Aktualität und von ganz praktischer Bedeutung.
Deswegen möchte ich in meiner ersten Enzyklika von der Liebe sprechen, mit der Gott
uns beschenkt und die von uns weitergegeben werden soll. Damit sind bereits die beiden
großen, eng miteinander verbundenen Teile dieses Schreibens vorgezeichnet. Der erste
wird einen mehr spekulativen Charakter haben, da ich beabsichtige, darin — zu Beginn
meines Pontifikats — einige wesentliche Punkte über die Liebe, die Gott dem Menschen
in geheimnisvoller Weise und völlig vorleistungsfrei anbietet, zu klären und zugleich
die innere Verbindung zwischen dieser Liebe Gottes und der Realität der menschlichen
Liebe aufzuzeigen. Der zweite Teil wird konkreterer Natur sein, denn er soll die kirchliche
praktische Umsetzung des Gebotes der Nächstenliebe behandeln. Das Thema erweist sich
somit als sehr weitläufig; eine erschöpfende Behandlung übersteigt jedoch den Zweck
dieser Enzyklika. Mein Wunsch ist es, auf einige grundlegende Elemente nachdrücklich
einzugehen, um so in der Welt eine neue Lebendigkeit wachzurufen in der praktischen
Antwort der Menschen auf die göttliche Liebe.
ERSTER TEIL DIE EINHEIT
DER LIEBE IN SCHÖPFUNG UND HEILSGESCHICHTE
Ein
sprachliches Problem 2. Die Liebe Gottes zu uns ist eine Grundfrage des Lebens
und wirft entscheidende Fragen danach auf, wer Gott ist und wer wir selber sind. Zunächst
aber steht uns diesbezüglich ein sprachliches Problem im Weg. Das Wort ,,Liebe’’ ist
heute zu einem der meist gebrauchten und auch mißbrauchten Wörter geworden, mit dem
wir völlig verschiedene Bedeutungen verbinden. Auch wenn das Thema dieses Rundschreibens
sich auf die Frage nach dem Verständnis und der Praxis der Liebe gemäß der Heiligen
Schrift und der Überlieferung der Kirche konzentriert, können wir doch nicht einfach
von dem absehen, was dieses Wort in den verschiedenen Kulturen und im gegenwärtigen
Sprachgebrauch aussagt.
Erinnern wir uns zunächst an die Bedeutungsvielfalt
des Wortes ,,Liebe’’: Wir sprechen von Vaterlandsliebe, von Liebe zum Beruf, von Liebe
unter Freunden, von der Liebe zur Arbeit, von der Liebe zwischen den Eltern und ihren
Kindern, zwischen Geschwistern und Verwandten, von der Liebe zum Nächsten und von
der Liebe zu Gott. In dieser ganzen Bedeutungsvielfalt erscheint aber doch die Liebe
zwischen Mann und Frau, in der Leib und Seele untrennbar zusammenspielen und dem Menschen
eine Verheißung des Glücks aufgeht, die unwiderstehlich scheint, als der Urtypus von
Liebe schlechthin, neben dem auf den ersten Blick alle anderen Arten von Liebe verblassen.
Da steht die Frage auf: Gehören alle diese Formen von Liebe doch letztlich in irgendeiner
Weise zusammen, und ist Liebe doch — in aller Verschiedenheit ihrer Erscheinungen
— eigentlich eins, oder aber gebrauchen wir nur ein und dasselbe Wort für ganz verschiedene
Wirklichkeiten?
,,Eros’’ und ,,Agape’’ –
Unterschied und Einheit 3. Der Liebe zwischen Mann und Frau, die nicht aus
Denken und Wollen kommt, sondern den Menschen gleichsam übermächtigt, haben die Griechen
den Namen Eros gegeben. Nehmen wir hier schon vorweg, daß das Alte Testament
das Wort Eros nur zweimal gebraucht, während es im Neuen Testament überhaupt
nicht vorkommt: Von den drei griechischen Wörtern für Liebe — Eros, Philia
(Freundschaftsliebe), Agape — bevorzugen die neutestamentlichen Schriften das
letztere, das im griechischen Sprachgebrauch nur am Rande gestanden hatte. Der Begriff
der Freundschaft (Philia) wird dann im Johannesevangelium aufgegriffen
und in seiner Bedeutung vertieft, um das Verhältnis zwischen Jesus und seinen Jüngern
auszudrücken. Dieses sprachliche Beiseiteschieben von Eros und die neue Sicht
der Liebe, die sich in dem Wort Agape ausdrückt, zeigt zweifellos etwas Wesentliches
von der Neuheit des Christentums gerade im Verstehen der Liebe an. In der Kritik am
Christentum, die sich seit der Aufklärung immer radikaler entfaltet hat, ist dieses
Neue durchaus negativ gewertet worden. Das Christentum — meinte Friedrich Nietzsche
— habe dem Eros Gift zu trinken gegeben; er sei zwar nicht daran gestorben,
aber zum Laster entartet.1 Damit drückte der deutsche Philosoph ein weit
verbreitetes Empfinden aus: Vergällt uns die Kirche mit ihren Geboten und Verboten
nicht das Schönste im Leben? Stellt sie nicht gerade da Verbotstafeln auf, wo uns
die vom Schöpfer zugedachte Freude ein Glück anbietet, das uns etwas vom Geschmack
des Göttlichen spüren läßt?
4. Aber ist es denn wirklich so? Hat das Christentum
tatsächlich den Eros zerstört? Sehen wir in die vorchristliche Welt. Die Griechen
— durchaus verwandt mit anderen Kulturen — haben im Eros zunächst den Rausch,
die Übermächtigung der Vernunft durch eine ,,göttliche Raserei’’ gesehen, die den
Menschen aus der Enge seines Daseins herausreißt und ihn in diesem Überwältigtwerden
durch eine göttliche Macht die höchste Seligkeit erfahren läßt. Alle anderen Gewalten
zwischen Himmel und Erde erscheinen so als zweiten Ranges: ,,Omnia vincit Amor’’,
sagt Vergil in den Bucolica — ,,die Liebe besiegt alles’’. Und er fügt hinzu: ,,Et
nos cedamus amori’’ — ,,weichen auch wir der Liebe’’.2 In den Religionen
hat sich diese Haltung in der Form der Fruchtbarkeitskulte niedergeschlagen, zu denen
die ,,heilige’’ Prostitution gehört, die in vielen Tempeln blühte. Eros wurde
so als göttliche Macht gefeiert, als Vereinigung mit dem Göttlichen.
Das
Alte Testament hat sich dieser Art von Religion, die als übermächtige Versuchung dem
Glauben an den einen Gott entgegenstand, mit aller Härte widersetzt, sie als Perversion
des Religiösen bekämpft. Es hat damit aber gerade nicht dem Eros als solchem
eine Absage erteilt, sondern seiner zerstörerischen Entstellung den Kampf angesagt.
Denn die falsche Vergöttlichung des Eros, die hier geschieht, beraubt ihn seiner
Würde, entmenschlicht ihn. Die Prostituierten im Tempel, die den Göttlichkeitsrausch
schenken müssen, werden nämlich nicht als Menschen und Personen behandelt, sondern
dienen nur als Objekte, um den ,,göttlichen Wahnsinn’’ herbeizuführen: Tatsächlich
sind sie nicht Göttinnen, sondern mißbrauchte Menschen. Deshalb ist der trunkene,
zuchtlose Eros nicht Aufstieg, ,,Ekstase’’ zum Göttlichen hin, sondern Absturz
des Menschen. So wird sichtbar, daß Eros der Zucht, der Reinigung bedarf, um
dem Menschen nicht den Genuß eines Augenblicks, sondern einen gewissen Vorgeschmack
der Höhe der Existenz zu schenken — jener Seligkeit, auf die unser ganzes Sein wartet.
5.
Zweierlei ist bei diesem kurzen Blick auf das Bild des Eros in Geschichte und
Gegenwart deutlich geworden. Zum einen, daß Liebe irgendwie mit dem Göttlichen zu
tun hat: Sie verheißt Unendlichkeit, Ewigkeit — das Größere und ganz andere gegenüber
dem Alltag unseres Daseins. Zugleich aber hat sich gezeigt, daß der Weg dahin nicht
einfach in der Übermächtigung durch den Trieb gefunden werden kann. Reinigungen und
Reifungen sind nötig, die auch über die Straße des Verzichts führen. Das ist nicht
Absage an den Eros, nicht seine ,,Vergiftung’’, sondern seine Heilung zu seiner
wirklichen Größe hin.
Dies liegt zunächst an der Verfaßtheit des Wesens Mensch,
das aus Leib und Seele gefügt ist. Der Mensch wird dann ganz er selbst, wenn Leib
und Seele zu innerer Einheit finden; die Herausforderung durch den Eros ist
dann bestanden, wenn diese Einung gelungen ist. Wenn der Mensch nur Geist sein will
und den Leib sozusagen als bloß animalisches Erbe abtun möchte, verlieren Geist und
Leib ihre Würde. Und wenn er den Geist leugnet und so die Materie, den Körper, als
alleinige Wirklichkeit ansieht, verliert er wiederum seine Größe. Der Epikureer Gassendi
redete scherzend Descartes mit ,,o Geist’’ an. Und Descartes replizierte mit ,,o Leib!’’
3 Aber es lieben nicht Geist oder Leib — der Mensch, die Person, liebt
als ein einziges und einiges Geschöpf, zu dem beides gehört. Nur in der wirklichen
Einswerdung von beidem wird der Mensch ganz er selbst. Nur so kann Liebe — Eros
— zu ihrer wahren Größe reifen. Heute wird dem Christentum der Vergangenheit
vielfach Leibfeindlichkeit vorgeworfen, und Tendenzen in dieser Richtung hat es auch
immer gegeben. Aber die Art von Verherrlichung des Leibes, die wir heute erleben,
ist trügerisch. Der zum ,,Sex’’ degradierte Eros wird zur Ware, zur bloßen
,,Sache’’; man kann ihn kaufen und verkaufen, ja, der Mensch selbst wird dabei zur
Ware. In Wirklichkeit ist dies gerade nicht das große Ja des Menschen zu seinem Leib.
Im Gegenteil: Er betrachtet nun den Leib und die Geschlechtlichkeit als das bloß Materielle
an sich, das er kalkulierend einsetzt und ausnützt. Es erscheint nicht als Bereich
seiner Freiheit, sondern als ein Etwas, das er auf seine Weise zugleich genußvoll
und unschädlich zu machen versucht. In Wirklichkeit stehen wir dabei vor einer Entwürdigung
des menschlichen Leibes, der nicht mehr ins Ganze der Freiheit unserer Existenz integriert,
nicht mehr lebendiger Ausdruck der Ganzheit unseres Seins ist, sondern gleichsam ins
bloß Biologische zurückgestoßen wird. Die scheinbare Verherrlichung des Leibes kann
ganz schnell in Haß auf die Leiblichkeit umschlagen. Demgegenüber hat der christliche
Glaube immer den Menschen als das zweieinige Wesen angesehen, in dem Geist und Materie
ineinandergreifen und beide gerade so einen neuen Adel erfahren. Ja, Eros will
uns zum Göttlichen hinreißen, uns über uns selbst hinausführen, aber gerade darum
verlangt er einen Weg des Aufstiegs, der Verzichte, der Reinigungen und Heilungen.
6.
Wie sollen wir uns diesen Weg des Aufstiegs und der Reinigungen praktisch vorstellen?
Wie muß Liebe gelebt werden, damit sich ihre menschliche und göttliche Verheißung
erfüllt? Einen ersten wichtigen Hinweis können wir im Hohenlied finden, einem
der Bücher des Alten Testamentes, das den Mystikern wohlbekannt ist. Nach der gegenwärtig
überwiegenden Auffassung sind die Gedichte, aus denen dieses Buch besteht, ursprünglich
Liebeslieder, die vielleicht konkret einer israelitischen Hochzeitsfeier zugedacht
waren, bei der sie die eheliche Liebe verherrlichen sollten. Dabei ist sehr lehrreich,
daß im Aufbau des Buches zwei verschiedene Wörter für ,,Liebe’’ stehen. Da ist zunächst
das Wort ,,dodim’’ — ein Plural, der die noch unsichere, unbestimmt suchende
Liebe meint. Dieses Wort wird dann durch ,,ahaba’’ abgelöst, das in der griechischen
Übersetzung des Alten Testaments mit dem ähnlich klingenden Wort Agape übersetzt
ist und — wie wir sahen — zum eigentlichen Kennwort für das biblische Verständnis
von Liebe wurde. Im Gegensatz zu der noch suchenden und unbestimmten Liebe ist darin
die Erfahrung von Liebe ausgedrückt, die nun wirklich Entdeckung des anderen ist und
so den egoistischen Zug überwindet, der vorher noch deutlich waltete. Liebe wird nun
Sorge um den anderen und für den anderen. Sie will nicht mehr sich selbst — das Versinken
in der Trunkenheit des Glücks –, sie will das Gute für den Geliebten: Sie wird Verzicht,
sie wird bereit zum Opfer, ja sie will es. Zu den Aufstiegen der Liebe und ihren
inneren Reinigungen gehört es, daß Liebe nun Endgültigkeit will, und zwar in doppeltem
Sinn: im Sinn der Ausschließlichkeit — ,,nur dieser eine Mensch’’ — und im Sinn des
,,für immer’’. Sie umfaßt das Ganze der Existenz in allen ihren Dimensionen, auch
in derjenigen der Zeit. Das kann nicht anders sein, weil ihre Verheißung auf das Endgültige
zielt: Liebe zielt auf Ewigkeit. Ja, Liebe ist ,,Ekstase’’, aber Ekstase nicht im
Sinn des rauschhaften Augenblicks, sondern Ekstase als ständiger Weg aus dem in sich
verschlossenen Ich zur Freigabe des Ich, zur Hingabe und so gerade zur Selbstfindung,
ja, zur Findung Gottes: ,,Wer sein Leben zu bewahren sucht, wird es verlieren; wer
es dagegen verliert, wird es gewinnen’’ (Lk 17, 33), sagt Jesus — ein Wort,
das in mehreren Varianten bei ihm in den Evangelien wiederkehrt (vgl. Mt 10,
39; 16, 25; Mk 8, 35; Lk 9, 24; Joh 12, 25). Jesus beschreibt
damit seinen eigenen Weg, der durch das Kreuz zur Auferstehung führt — den Weg des
Weizenkorns, das in die Erde fällt und stirbt und so reiche Frucht trägt; aber er
beschreibt darin auch das Wesen der Liebe und der menschlichen Existenz überhaupt
von der Mitte seines eigenen Opfers und seiner darin sich vollendenden Liebe her.
7.
Unsere zunächst mehr philosophischen Überlegungen über das Wesen von Liebe haben uns
nun von selbst zum biblischen Glauben hinübergeführt. Am Anfang stand die Frage, ob
denn die unterschiedenen, ja gegensätzlichen Bedeutungen des Wortes Liebe auf irgendeine
innere Einheit hinweisen oder ob sie unverbunden nebeneinander stehenbleiben müssen,
besonders aber die Frage, ob die uns von der Bibel und der Überlieferung der Kirche
verkündete Botschaft über die Liebe mit der allgemein menschlichen Liebeserfahrung
etwas zu tun habe oder ihr vielleicht gar entgegengesetzt sei. Dabei begegneten uns
die beiden Grundwörter Eros als Darstellung der ,,weltlichen’’ Liebe und Agape
als Ausdruck für die im Glauben gründende und von ihm geformte Liebe. Beide werden
häufig auch als ,,aufsteigende’’ und ,,absteigende’’ Liebe einander entgegengestellt;
verwandt damit sind andere Einteilungen wie etwa die Unterscheidung in begehrende
und schenkende Liebe (amor concupiscentiae — amor benevolentiae), der dann
manchmal auch noch die auf den Nutzen bedachte Liebe hinzugefügt wird.
In
der philosophischen und theologischen Diskussion sind diese Unterscheidungen oft zu
Gegensätzen hochgesteigert worden: Christlich sei die absteigende, schenkende Liebe,
die Agape; die nichtchristliche, besonders die griechische Kultur sei dagegen
von der aufsteigenden, begeh- renden Liebe, dem Eros geprägt. Wenn man diesen
Gegensatz radikal durchführte, würde das Eigentliche des Christentums aus den grundlegenden
Lebenszusammenhängen des Menschseins ausgegliedert und zu einer Sonderwelt, die man
dann für bewundernswert ansehen mag, die aber doch vom Ganzen der menschlichen Existenz
abgeschnitten würde. In Wirklichkeit lassen sich Eros und Agape — aufsteigende
und absteigende Liebe — niemals ganz voneinander trennen. Je mehr beide in unterschiedlichen
Dimensionen in der einen Wirklichkeit Liebe in die rechte Einheit miteinander treten,
desto mehr verwirklicht sich das wahre Wesen von Liebe überhaupt. Wenn Eros zunächst
vor allem verlangend, aufsteigend ist — Faszination durch die große Verheißung des
Glücks — so wird er im Zugehen auf den anderen immer weniger nach sich selber fragen,
immer mehr das Glück des anderen wollen, immer mehr sich um ihn sorgen, sich schenken,
für ihn da sein wollen. Das Moment der Agape tritt in ihn ein, andernfalls
verfällt er und verliert auch sein eigenes Wesen. Umgekehrt ist es aber auch dem Menschen
unmöglich, einzig in der schenkenden, absteigenden Liebe zu leben. Er kann nicht immer
nur geben, er muß auch empfangen. Wer Liebe schenken will, muß selbst mit ihr beschenkt
werden. Gewiß, der Mensch kann — wie der Herr uns sagt — zur Quelle werden, von der
Ströme lebendigen Wassers kommen (vgl. Joh 7, 37-38). Aber damit er eine solche
Quelle wird, muß er selbst immer wieder aus der ersten, der ursprünglichen Quelle
trinken — bei Jesus Christus, aus dessen geöffnetem Herzen die Liebe Gottes selber
entströmt (vgl. Joh 19, 34).
Die Väter haben diesen unlöslichen
Zusammenhang von Aufstieg und Abstieg, von gottsuchendem Eros und von weiterschenkender
Agape auf vielfältige Weise in der Erzählung von der Jakobsleiter symbolisiert
gesehen. In diesem biblischen Text wird berichtet, daß der Patriarch Jakob im Traum
über dem Stein, der ihm als Kissen diente, eine Leiter sah, die bis in den Himmel
reichte und auf der Engel auf- und niederstiegen (vgl. Gen 28, 12; Joh
1, 51). Besonders eindrücklich ist die Auslegung dieses Traumbildes, die Papst Gregor
der Große in seiner Pastoralregel gibt. Der rechte Hirte, so sagt er uns, muß
in der Kontemplation verankert sein. Denn nur so ist ihm möglich, die Nöte der anderen
in sein Innerstes aufzunehmen, so daß sie die seinen werden: ,,per pietatis viscera
in se infirmitatem caeterorum transferat’’.4 Gregor verweist dabei
auf Paulus, der sich hinaufreißen läßt zu den größten Geheimnissen Gottes und gerade
so absteigend allen alles wird (vgl. 2 Kor 12, 2-4; 1 Kor 9, 22). Dazu
führt er noch das Beispiel des Mose an, der immer wieder das heilige Zelt betritt
und mit Gott Zwiesprache hält, um von Gott her für sein Volk da sein zu können. ,,Inwendig
[im Zelt] wird er durch die Beschauungen nach oben gerissen, auswendig [außerhalb
des Zeltes] läßt er sich von der Last der Leidenden bedrängen — intus in contemplationem
rapitur, foris infirmantium negotiis urgetur’’.5 8. Damit haben
wir eine erste, noch recht allgemeine Antwort auf die beiden oben genannten Fragen
gefunden: Im letzten ist ,,Liebe’’ eine einzige Wirklichkeit, aber sie hat verschiedene
Dimensionen — es kann jeweils die eine oder andere Seite stärker hervortreten. Wo
die beiden Seiten aber ganz auseinanderfallen, entsteht eine Karikatur oder jedenfalls
eine Kümmerform von Liebe. Und wir haben auch schon grundsätzlich gesehen, daß der
biblische Glaube nicht eine Nebenwelt oder Gegenwelt gegenüber dem menschlichen Urphänomen
Liebe aufbaut, sondern den ganzen Menschen annimmt, in seine Suche nach Liebe reinigend
eingreift und ihm dabei neue Dimensionen eröffnet. Dieses Neue des biblischen Glaubens
zeigt sich vor allem in zwei Punkten, die verdienen, hervorgehoben zu werden: im Gottesbild
und im Menschenbild.
Das Neue des biblischen Glaubens
9.
Da ist zunächst das neue Gottesbild. In den Kulturen, die die Welt der Bibel umgeben,
bleibt das Bild von Gott und den Göttern letztlich un- deutlich und widersprüchlich.
Im Weg des biblischen Glaubens wird hingegen immer klarer und eindeutiger, was das
Grundgebet Israels, das Schema in die Worte faßt:
,,Höre, Israel, der Herr, unser Gott, der Herr ist nur einer’’ (Dtn 6, 4).
Es gibt nur einen Gott, der der Schöpfer des Himmels und der Erde und darum auch der
Gott aller Menschen ist. Zweierlei ist an dieser Präzision einzigartig: daß wirklich
alle anderen Götter nicht Gott sind und daß die ganze Wirklichkeit, in der wir leben,
auf Gott zurückgeht, von ihm geschaffen ist. Natürlich gibt es den Schöpfungsgedanken
auch anderswo, aber nur hier wird ganz klar, daß nicht irgendein Gott, sondern der
einzige, wahre Gott selbst der Urheber der ganzen Wirklichkeit ist, daß sie aus der
Macht seines schöpferischen Wortes stammt. Das bedeutet, daß ihm dieses sein Gebilde
lieb ist, weil es ja von ihm selbst gewollt, von ihm ,,gemacht’’ ist. Damit tritt
nun das zweite wichtige Element in Erscheinung: Dieser Gott liebt den Menschen. Die
göttliche Macht, die Aristoteles auf dem Höhepunkt der griechischen Philosophie denkend
zu erfassen suchte, ist zwar für alles Seiende Gegenstand des Begehrens und der Liebe
— als Geliebtes bewegt diese Gottheit die Welt 6 —, aber sie selbst ist
unbedürftig und liebt nicht, sie wird nur geliebt. Der eine Gott, dem Israel glaubt,
liebt selbst. Seine Liebe ist noch dazu eine wählende Liebe: Aus allen Völkern wählt
er Israel und liebt es — freilich mit dem Ziel, gerade so die ganze Menschheit zu
heilen. Er liebt, und diese seine Liebe kann man durchaus als Eros bezeichnen,
der freilich zugleich ganz Agape ist.7
Vor allem die Propheten
Hosea und Ezechiel haben diese Leidenschaft Gottes für sein Volk mit kühnen erotischen
Bildern beschrieben. Das Verhältnis Gottes zu Israel wird unter den Bildern der Brautschaft
und der Ehe dargestellt; der Götzendienst ist daher Ehebruch und Hurerei. Damit werden
konkret, wie wir sahen, die Fruchtbarkeitskulte mit ihrem Mißbrauch des Eros
angesprochen, aber damit wird nun auch das Treueverhältnis zwischen Israel und seinem
Gott beschrieben. Die Liebesgeschichte Gottes mit Israel besteht im tiefsten darin,
daß er ihm die Thora gibt, das heißt, ihm die Augen auftut für das wahre Wesen des
Menschen und ihm den Weg des rechten Menschseins zeigt; diese Geschichte besteht darin,
daß der Mensch so in der Treue zu dem einen Gott lebend sich als Geliebten Gottes
erfährt und die Freude an der Wahrheit, an der Gerechtigkeit — die Freude an Gott
findet, die sein eigentliches Glück wird: ,,Was habe ich im Himmel außer dir? Neben
dir erfreut mich nichts auf der Erde ... Ich aber — Gott nahe zu sein ist mein Glück’’
(Ps 73 [72], 25. 28).
10. Der Eros Gottes für den Menschen
ist — wie wir sagten — zugleich ganz und gar Agape. Nicht nur weil er ganz
frei und ohne vorgängiges Verdienst geschenkt wird, sondern auch weil er verzeihende
Liebe ist. Vor allem Hosea zeigt uns die weit über den Aspekt der Unverdientheit hinausreichende
Agape-Dimension der Liebe Gottes zum Menschen. Israel hat die ,,Ehe’’ gebrochen
— den Bund; Gott müßte es eigentlich richten, verwerfen. Aber gerade nun zeigt sich,
daß Gott Gott ist und nicht ein Mensch: ,,Wie könnte ich dich preisgeben, Efraim,
wie dich aufgeben, Israel? ... Mein Herz wendet sich gegen mich, mein Mitleid lodert
auf. Ich will meinen glühenden Zorn nicht vollstrecken und Efraim nicht noch einmal
vernichten. Denn ich bin Gott, nicht ein Mensch, der Heilige in deiner Mitte’’ (Hos
11, 8- 9). Die leidenschaftliche Liebe Gottes zu seinem Volk — zum Menschen — ist
zugleich vergebende Liebe. Sie ist so groß, daß sie Gott gegen sich selbst wendet,
seine Liebe gegen seine Gerechtigkeit. Der Christ sieht darin schon verborgen sich
anzeigend das Geheimnis des Kreuzes: Gott liebt den Menschen so, daß er selbst Mensch
wird, ihm nachgeht bis in den Tod hinein und auf diese Weise Gerechtigkeit und Liebe
versöhnt.
Das philosophisch und religionsgeschichtlich Bemerkenswerte an
dieser Sicht der Bibel besteht darin, daß wir einerseits sozusagen ein streng metaphysisches
Gottesbild vor uns haben: Gott ist der Urquell allen Seins überhaupt; aber dieser
schöpferische Ursprung aller Dinge — der Logos, die Urvernunft — ist zugleich
ein Liebender mit der ganzen Leidenschaft wirklicher Liebe. Damit ist der Eros
aufs Höchste geadelt, aber zugleich so gereinigt, daß er mit der Agape verschmilzt.
Von da aus können wir verstehen, daß die Aufnahme des Hohenliedes in den Kanon
der Heiligen Schriften sehr früh dahingehend gedeutet wurde, daß diese Liebeslieder
im letzten das Verhältnis Gottes zum Menschen und des Menschen zu Gott schildern.
Auf diese Weise ist das Hohelied in der jüdischen wie in der christlichen Literatur
zu einer Quelle mystischer Erkenntnis und Erfahrung geworden, in der sich das Wesen
des biblischen Glaubens ausdrückt: Ja, es gibt Vereinigung des Menschen mit Gott —
der Urtraum des Menschen –, aber diese Vereinigung ist nicht Verschmelzen, Untergehen
im namenlosen Ozean des Göttlichen, sondern ist Einheit, die Liebe schafft, in der
beide — Gott und der Mensch — sie selbst bleiben und doch ganz eins werden: ,,Wer
dem Herrn anhangt, wird ein Geist mit ihm’’, sagt der heilige Paulus (1 Kor
6, 17).
11. Die erste Neuheit des biblischen Glaubens liegt, wie wir sahen,
im Gottesbild; die zweite, damit von innen zusammenhängende, finden wir im Menschenbild.
Der Schöpfungsbericht der Bibel spricht von der Einsamkeit des ersten Menschen, Adam,
dem Gott eine Hilfe zur Seite geben will. Keines von allen Geschöpfen kann dem Menschen
diese ihm nötige Hilfe sein, obgleich er alle Tiere des Feldes und alle Vögel benennt
und so in seinen Lebenszusammenhang einbezieht. Da bildet Gott aus einer Rippe des
Mannes heraus die Frau. Nun findet Adam die Hilfe, deren er bedarf: ,,Das ist endlich
Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch’’. (Gen 2, 23). Dahinter
mag man Vorstellungen sehen, wie sie etwa in dem von Platon berichteten Mythos zum
Vorschein kommen, der Mensch sei ursprünglich kugelgestaltig, das heißt ganz in sich
selbst und sich selbst genügend gewesen, aber von Zeus zur Strafe für seinen Hochmut
halbiert worden, so daß er sich nun immerfort nach der anderen Hälfte seiner selbst
sehnt, nach ihr unterwegs ist, um wieder zur Ganzheit zu finden.8 Im biblischen
Bericht ist von Strafe nicht die Rede, aber der Gedanke ist doch da, daß der Mensch
gleichsam unvollständig ist — von seinem Sein her auf dem Weg, im anderen zu seiner
Ganzheit zu finden; daß er nur im Miteinander von Mann und Frau ,,ganz’’ wird. So
schließt denn auch der biblische Bericht mit einer Prophezeiung über Adam: ,,Darum
verläßt der Mann Vater und Mutter und bindet sich an seine Frau und sie werden ein
Fleisch’’ (Gen 2, 24).
Zweierlei ist daran wichtig: Der Eros
ist gleichsam wesensmäßig im Menschen selbst verankert; Adam ist auf der Suche und
,,verläßt Vater und Mutter’’, um die Frau zu finden; erst gemeinsam stellen beide
die Ganzheit des Menschseins dar, werden ,,ein Fleisch’’ miteinander. Nicht minder
wichtig ist das zweite: Der Eros verweist von der Schöpfung her den Menschen
auf die Ehe, auf eine Bindung, zu der Einzigkeit und Endgültigkeit gehören. So, nur
so erfüllt sich seine innere Weisung. Dem monotheistischen Gottesbild entspricht die
monogame Ehe. Die auf einer ausschließlichen und endgültigen Liebe beruhende Ehe wird
zur Darstellung des Verhältnisses Gottes zu seinem Volk und umgekehrt: die Art, wie
Gott liebt, wird zum Maßstab menschlicher Liebe. Diese feste Verknüpfung von Eros
und Ehe in der Bibel findet kaum Parallelen in der außerbiblischen Literatur.
Jesus
Christus — die fleischgewordene Liebe Gottes
12. Haben wir bisher überwiegend
vom Alten Testament gesprochen, so ist doch immer schon die innere Durchdringung der
beiden Testamente als der einen Schrift des christlichen Glaubens sichtbar geworden.
Das eigentlich Neue des Neuen Testaments sind nicht neue Ideen, sondern die Gestalt
Christi selber, der den Gedanken Fleisch und Blut, einen unerhörten Realismus gibt.
Schon im Alten Testament besteht das biblisch Neue nicht einfach in Gedanken, sondern
in dem unerwarteten und in gewisser Hinsicht unerhörten Handeln Gottes. Dieses Handeln
Gottes nimmt seine dramatische Form nun darin an, daß Gott in Jesus Christus selbst
dem ,,verlorenen Schaf’’, der leidenden und verlorenen Menschheit, nachgeht. Wenn
Jesus in seinen Gleichnissen von dem Hirten spricht, der dem verlorenen Schaf nachgeht,
von der Frau, die die Drachme sucht, von dem Vater, der auf den verlorenen Sohn zugeht
und ihn umarmt, dann sind dies alles nicht nur Worte, sondern Auslegungen seines eigenen
Seins und Tuns. In seinem Tod am Kreuz vollzieht sich jene Wende Gottes gegen sich
selbst, in der er sich verschenkt, um den Menschen wieder aufzuheben und zu retten
— Liebe in ihrer radikalsten Form. Der Blick auf die durchbohrte Seite Jesu, von dem
Johannes spricht (vgl. 19, 37), begreift, was Ausgangspunkt dieses Schreibens war:
,,Gott ist Liebe’’ (1 Joh 4, 8). Dort kann diese Wahrheit angeschaut werden.
Und
von dort her ist nun zu definieren, was Liebe ist. Von diesem Blick her findet der
Christ den Weg seines Lebens und Liebens. 13. Diesem Akt der Hingabe hat Jesus
bleibende Gegenwart verliehen durch die Einsetzung der Eucharistie während des Letzten
Abendmahles. Er antizipiert seinen Tod und seine Auferste- hung, indem er schon in
jener Stunde den Jüngern in Brot und Wein sich selbst gibt, seinen Leib und sein Blut
als das neue Manna (vgl. Joh 6, 31-33). Wenn die antike Welt davon geträumt
hatte, daß letztlich die eigentliche Nahrung des Menschen — das, wovon er als Mensch
lebt — der Logos, die ewige Vernunft sei: Nun ist dieser Logos wirklich
Speise für uns geworden — als Liebe. Die Eucharistie zieht uns in den Hingabeakt Jesu
hinein. Wir empfangen nicht nur statisch den inkarnierten Logos, sondern werden
in die Dynamik seiner Hingabe hineingenommen. Das Bild von der Ehe zwischen Gott und
Israel wird in einer zuvor nicht auszudenkenden Weise Wirklichkeit: Aus dem Gegenüber
zu Gott wird durch die Gemeinschaft mit der Hingabe Jesu Gemeinschaft mit seinem Leib
und Blut, wird Vereinigung: Die ,,Mystik’’ des Sakraments, die auf dem Abstieg Gottes
zu uns beruht, reicht weiter und führt höher, als jede mystische Aufstiegsbegegnung
des Menschen reichen könnte.
14. Aber nun ist ein Weiteres zu beachten:
Die ,,Mystik’’ des Sakraments hat sozialen Charakter. Denn in der Kommunion werde
ich mit dem Herrn vereint wie alle anderen Kommunikanten: ,,Ein Brot ist es. Darum
sind wir viele ein Leib, denn wir alle haben teil an dem einen Brot’’, sagt der heilige
Paulus (1 Kor 10, 17). Die Vereinigung mit Christus ist zugleich eine Vereinigung
mit allen anderen, denen er sich schenkt. Ich kann Christus nicht allein für mich
haben, ich kann ihm zugehören nur in der Gemeinschaft mit allen, die die Seinigen
geworden sind oder werden sollen. Die Kommunion zieht mich aus mir heraus zu ihm hin
und damit zugleich in die Einheit mit allen Christen. Wir werden ,,ein Leib’’, eine
ineinander verschmolzene Existenz. Gottesliebe und Nächstenliebe sind nun wirklich
vereint: Der fleischgewordene Gott zieht uns alle an sich. Von da versteht es sich,
daß Agape nun auch eine Bezeichnung der Eucharistie wird: In ihr kommt die
Agape Gottes leibhaft zu uns, um in uns und durch uns weiterzuwirken. Nur von
dieser christologisch-sakramentalen Grundlage her kann man die Lehre Jesu von der
Liebe recht verstehen. Seine Führung von Gesetz und Propheten auf das Doppelgebot
der Gottes- und der Nächstenliebe hin, die Zentrierung der ganzen gläubigen Existenz
von diesem Auftrag her, ist nicht bloße Moral, die dann selbständig neben dem Glauben
an Christus und neben seiner Vergegenwärtigung im Sakrament stünde: Glaube, Kult und
Ethos greifen ineinander als eine einzige Realität, die in der Begegnung mit Gottes
Agape sich bildet. Die übliche Entgegensetzung von Kult und Ethos fällt hier
einfach dahin: Im ,,Kult’’ selber, in der eucharistischen Gemeinschaft ist das Geliebtwerden
und Weiterlieben enthalten. Eucharistie, die nicht praktisches Liebeshandeln wird,
ist in sich selbst fragmentiert, und umgekehrt wird — wie wir noch ausführlicher werden
bedenken müssen — das ,,Gebot’’ der Liebe überhaupt nur möglich, weil es nicht bloß
Forderung ist: Liebe kann ,,geboten’’ werden, weil sie zuerst geschenkt wird.
15.
Von da aus sind auch die großen Gleichnisse Jesu zu verstehen. Der reiche Prasser
(vgl. Lk 16, 19-31) fleht vom Ort der Verdammung aus darum, daß seinen Brüdern
verkündet werde, wie es dem ergeht, der den notleidenden Armen einfach übersehen hat.
Jesus greift sozusagen den Notschrei auf und bringt ihn zu uns, um uns zu warnen,
um uns auf den rechten Weg zu bringen. Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter (vgl.
Lk 10, 25-37) bringt vor allem zwei wichtige Klärungen. Während der Begriff ,,Nächster’’
bisher wesentlich auf den Volksgenossen und den im Land Israel ansässig gewordenen
Fremden, also auf die Solidargemeinschaft eines Landes und Volkes bezogen war, wird
diese Grenze nun weggenommen: Jeder, der mich braucht und dem ich helfen kann, ist
mein Nächster. Der Begriff ,,Nächster’’ wird universalisiert und bleibt doch konkret.
Er wird trotz der Ausweitung auf alle Menschen nicht zum Ausdruck einer unverbindlichen
Fernstenliebe, sondern verlangt meinen praktischen Einsatz hier und jetzt. Es bleibt
Aufgabe der Kirche, diese Verbindung von Weite und Nähe immer wieder ins praktische
Leben ihrer Glieder hinein auszulegen. Schließlich ist hier im besonderen noch das
große Gleichnis vom letzten Gericht (vgl. Mt 25, 31-46) zu erwähnen, in dem
die Liebe zum Maßstab für den endgültigen Entscheid über Wert oder Unwert eines Menschenlebens
wird. Jesus identifiziert sich mit den Notleidenden: den Hungernden, den Dürstenden,
den Fremden, den Nackten, den Kranken, denen im Gefängnis. ,,Was ihr für einen meiner
geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan’’ (Mt 25, 40). Gottes-
und Nächstenliebe verschmelzen: Im Geringsten begegnen wir Jesus selbst, und in Jesus
begegnen wir Gott.
Gottes- und Nächstenliebe 16.
Nach all diesen Überlegungen über das Wesen der Liebe und ihre Deutung im biblischen
Glauben bleibt eine zweifache Frage in bezug auf unser Verhalten: Können wir Gott
überhaupt lieben, den wir doch nicht sehen? Und: kann man Liebe gebieten? Gegen das
Doppelgebot der Liebe gibt es den in diesen Fragen anklingenden doppelten Einwand.
Keiner hat Gott gesehen — wie sollten wir ihn lieben? Und des weiteren: Liebe kann
man nicht befehlen, sie ist doch ein Gefühl, das da ist oder nicht da ist, aber nicht
vom Willen geschaffen werden kann. Die Schrift scheint den ersten Einwand zu bestätigen,
wenn da steht: ,,Wenn jemand sagt: 'Ich liebe Gott!', aber seinen Bruder haßt, ist
er ein Lügner. Denn wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, kann Gott nicht lieben,
den er nicht sieht’’ (1 Joh 4, 20). Aber dieser Text schließt keineswegs die
Gottesliebe als etwas Unmögliches aus — im Gegenteil, sie wird im Zusammenhang des
eben zitierten Ersten Johannesbriefes ausdrücklich verlangt. Unterstrichen
wird die unlösliche Verschränkung von Gottes- und Nächstenliebe. Beide gehören so
zusammen, daß die Behauptung der Gottesliebe zur Lüge wird, wenn der Mensch sich dem
Nächsten verschließt oder gar ihn haßt. Man muß diesen johanneischen Vers vielmehr
dahin auslegen, daß die Nächstenliebe ein Weg ist, auch Gott zu begegnen, und daß
die Abwendung vom Nächsten auch für Gott blind macht.
17. In der Tat: Niemand
hat Gott gesehen, so wie er in sich ist. Und trotzdem ist Gott uns nicht gänzlich
unsichtbar, nicht einfach unzugänglich geblieben. Gott hat uns zuerst geliebt, sagt
der zitierte Johannesbrief (vgl. 4, 10), und diese Liebe Gottes ist unter uns
erschienen, sichtbar geworden dadurch, daß er ,,seinen einzigen Sohn in die Welt gesandt
hat, damit wir durch ihn leben’’ (1 Joh 4, 9). Gott hat sich sichtbar gemacht:
In Jesus können wir den Vater anschauen (vgl. Joh 14, 9). In der Tat gibt es
eine vielfältige Sichtbarkeit Gottes. In der Geschichte der Liebe, die uns die Bibel
erzählt, geht er uns entgegen, wirbt um uns — bis hin zum Letzten Abendmahl, bis hin
zu dem am Kreuz durchbohrten Herzen, bis hin zu den Erscheinungen des Auferstandenen
und seinen Großtaten, mit denen er durch das Wirken der Apostel die entstehende Kirche
auf ihrem Weg geführt hat. Und in der weiteren Geschichte der Kirche ist der Herr
nicht abwesend geblieben: Immer neu geht er auf uns zu — durch Menschen, in denen
er durchscheint; durch sein Wort, in den Sakramenten, besonders in der Eucharistie.
In der Liturgie der Kirche, in ihrem Beten, in der lebendigen Gemeinschaft der Gläubigen
erfahren wir die Liebe Gottes, nehmen wir ihn wahr und lernen so auch, seine Gegenwart
in unserem Alltag zu erkennen. Er hat uns zuerst geliebt und liebt uns zuerst; deswegen
können auch wir mit Liebe antworten. Gott schreibt uns nicht ein Gefühl vor, das wir
nicht herbeirufen können. Er liebt uns, läßt uns seine Liebe sehen und spüren, und
aus diesem ,,Zuerst’’ Gottes kann als Antwort auch in uns die Liebe aufkeimen.
Darüber
hinaus wird in diesem Prozeß der Begegnung auch klar, daß Liebe nicht bloß Gefühl
ist. Gefühle kommen und gehen. Das Gefühl kann eine großartige Initialzündung sein,
aber das Ganze der Liebe ist es nicht. Wir haben anfangs von dem Prozeß der Reinigungen
und Reifungen gesprochen, durch die Eros ganz er selbst, Liebe im Vollsinn
des Wortes wird. Zur Reife der Liebe gehört es, daß sie alle Kräfte des Menschseins
einbezieht, den Menschen sozusagen in seiner Ganzheit integriert. Die Begegnung mit
den sichtbaren Erscheinungen der Liebe Gottes kann in uns das Gefühl der Freude wekken,
das aus der Erfahrung des Geliebtseins kommt. Aber sie ruft auch unseren Willen und
unseren Verstand auf den Plan. Die Erkenntnis des lebendigen Gottes ist Weg zur Liebe,
und das Ja unseres Willens zu seinem Willen einigt Verstand, Wille und Gefühl zum
ganzheitlichen Akt der Liebe. Dies ist freilich ein Vorgang, der fortwährend unterwegs
bleibt: Liebe ist niemals ,,fertig’’ und vollendet; sie wandelt sich im Lauf des Lebens,
reift und bleibt sich gerade dadurch treu. Idem velle atque idem nolle9
— dasselbe wollen und dasselbe abweisen — das haben die Alten als eigentlichen Inhalt
der Liebe definiert: das Einander-ähnlich-Werden, das zur Gemeinsamkeit des Wollens
und des Denkens führt. Die Liebesgeschichte zwischen Gott und Mensch besteht eben
darin, daß diese Willensgemeinschaft in der Gemeinschaft des Denkens und Fühlens wächst
und so unser Wollen und Gottes Wille immer mehr ineinanderfallen: der Wille Gottes
nicht mehr ein Fremdwille ist für mich, den mir Gebote von außen auferlegen, sondern
mein eigener Wille aus der Erfahrung heraus, daß in der Tat Gott mir innerlicher ist
als ich mir selbst.10 Dann wächst Hingabe an Gott. Dann wird Gott unser
Glück (vgl. Ps 73 [72], 23-28).
18. So wird Nächstenliebe in dem
von der Bibel, von Jesus verkündigten Sinn möglich. Sie besteht ja darin, daß ich
auch den Mitmenschen, den ich zunächst gar nicht mag oder nicht einmal kenne, von
Gott her liebe. Das ist nur möglich aus der inneren Begegnung mit Gott heraus, die
Willensgemeinschaft geworden ist und bis ins Gefühl hineinreicht. Dann lerne ich,
diesen anderen nicht mehr bloß mit meinen Augen und Gefühlen anzusehen, sondern aus
der Perspektive Jesu Christi heraus. Sein Freund ist mein Freund. Ich sehe durch das
Äußere hindurch sein inneres Warten auf einen Gestus der Liebe — auf Zuwendung, die
ich nicht nur über die dafür zuständigen Organisationen umleite und vielleicht als
politische Notwendigkeit bejahe. Ich sehe mit Christus und kann dem anderen mehr geben
als die äußerlich notwendigen Dinge: den Blick der Liebe, den er braucht. Hier zeigt
sich die notwendige Wechselwirkung zwischen Gottes- und Nächstenliebe, von der der
Erste Johannesbrief so eindringlich spricht. Wenn die Berührung mit Gott in meinem
Leben ganz fehlt, dann kann ich im anderen immer nur den anderen sehen und kann das
göttliche Bild in ihm nicht erkennen. Wenn ich aber die Zuwendung zum Nächsten aus
meinem Leben ganz weglasse und nur ,,fromm’’ sein möchte, nur meine ,,religiösen Pflichten’’
tun, dann verdorrt auch die Gottesbeziehung. Dann ist sie nur noch ,,korrekt’’, aber
ohne Liebe. Nur meine Bereitschaft, auf den Nächsten zuzugehen, ihm Liebe zu erweisen,
macht mich auch fühlsam Gott gegenüber. Nur der Dienst am Nächsten öffnet mir die
Augen dafür, was Gott für mich tut und wie er mich liebt. Die Heiligen — denken wir
zum Beispiel an die sel. Theresa von Kalkutta — haben ihre Liebesfähigkeit dem Nächsten
gegenüber immer neu aus ihrer Begegnung mit dem eucharistischen Herrn geschöpft, und
umgekehrt hat diese Begegnung ihren Realismus und ihre Tiefe eben von ihrem Dienst
an den Nächsten her gewonnen. Gottes- und Nächstenliebe sind untrennbar: Es ist nur
ein Gebot. Beides aber lebt von der uns zuvorkommenden Liebe Gottes, der uns zuerst
geliebt hat. So ist es nicht mehr ,,Gebot’’ von außen her, das uns Unmögliches vorschreibt,
sondern geschenkte Erfahrung der Liebe von innen her, die ihrem Wesen nach sich weiter
mitteilen muß. Liebe wächst durch Liebe. Sie ist ,,göttlich’’, weil sie von Gott kommt
und uns mit Gott eint, uns in diesem Einungsprozeß zu einem Wir macht, das unsere
Trennungen überwindet und uns eins werden läßt, so daß am Ende ,,Gott alles in allem’’
ist (vgl. 1 Kor 15, 28).
ZWEITER TEIL CARITAS DAS
LIEBESTUN DER KIRCHE ALS EINER ,,GEMEINSCHAFT DER LIEBE’’
Das
Liebestun der Kirche als Ausdruck der trinitarischen Liebe
19. ,,Wenn du
die Liebe siehst, siehst du die Heiligste Dreifaltigkeit’’, schrieb Augustinus.11
In den vorangegangenen Überlegungen haben wir unseren Blick auf die geöffnete Seite
Jesu, auf den, ,,den sie durchbohrt haben’’ (vgl. Joh 19, 37; Sach 12,
10), richten können und dabei den Plan des Vaters erkannt, der aus Liebe (vgl.
Joh 3, 16) seinen eingeborenen Sohn in die Welt gesandt hat, um den Menschen zu
erlösen. In seinem Tod am Kreuz hat Jesus, wie der Evangelist berichtet, ,,den Geist
ausgehaucht’’ (vgl. Joh 19, 30) — eine Einleitung zu jener Weitergabe des Heiligen
Geistes, die er nach seiner Auferstehung verwirklichen sollte (vgl. Joh 20,
22). So erfüllte sich die Verheißung der ,,Ströme von lebendigem Wasser’’, die dank
der Ausgießung des Geistes aus dem Innern der Gläubigen fließen sollten (vgl. Joh
7, 38-39). Der Geist ist nämlich die innere Kraft, die ihr Herz mit dem Herzen Christi
in Einklang bringt und sie bewegt, die Mitmenschen so zu lieben, wie er sie geliebt
hat, als er sich niederbeugte, um den Jüngern die Füße zu waschen (vgl. Joh
13, 1-13), und insbesondere als er für alle sein Leben hingab (vgl. Joh 13,
1; 15, 13).
Der Geist ist auch eine Kraft, die das Herz der kirchlichen
Gemeinschaft verwandelt, damit sie in der Welt eine Zeugin für die Liebe des Vaters
ist, der die Menschheit in seinem Sohn zu einer einzigen Familie machen will. Alles
Handeln der Kirche ist Ausdruck einer Liebe, die das ganzheitliche Wohl des Menschen
anstrebt: seine Evangelisierung durch das Wort und die Sakramente — ein in seinen
geschichtlichen Verwirklichungen oftmals heroisches Unterfangen — und seine Förderung
und Entwicklung in den verschiedenen Bereichen menschlichen Lebens und Wirkens. So
ist Liebe der Dienst, den die Kirche entfaltet, um unentwegt den auch materiellen
Leiden und Nöten der Menschen zu begegnen. Auf diesen Aspekt, auf diesen Liebesdienst
möchte ich in diesem zweiten Teil der Enzyklika näher eingehen.
Das
Liebestun als Auftrag der Kirche 20. Die in der Gottesliebe verankerte Nächstenliebe
ist zunächst ein Auftrag an jeden einzelnen Gläubigen, aber sie ist ebenfalls ein
Auftrag an die gesamte kirchliche Gemeinschaft, und dies auf all ihren Ebenen: von
der Ortsgemeinde über die Teilkirche bis zur Universalkirche als ganzer. Auch die
Kirche als Gemeinschaft muß Liebe üben. Das wiederum bedingt es, daß Liebe auch der
Organisation als Voraussetzung für geordnetes gemeinschaftliches Dienen bedarf. Das
Bewußtsein dieses Auftrags war in der Kirche von Anfang an konstitutiv: ,,Alle, die
gläubig geworden waren, bildeten eine Gemeinschaft und hatten alles gemeinsam. Sie
verkauften Hab und Gut und gaben davon allen, jedem so viel, wie er nötig hatte’’
(Apg 2, 44-45). Lukas erzählt uns das im Zusammenhang einer Art Definition
der Kirche, zu deren Wesenselementen er das Festhalten an der ,,Lehre der Apostel’’
und an der ,,Gemeinschaft’’ (koinonia), am ,,Brotbrechen’’ und an den ,,Gebeten’’
rechnet (vgl. Apg 2, 42). Das hier zunächst nicht weiter beschriebene Element
,,Gemeinschaft’’ (koinonia) wird in den vorhin zitierten Versen konkretisiert:
Ihre Gemeinschaft besteht eben darin, daß die Gläubigen alles gemeinsam haben und
daß es den Unterschied zwischen arm und reich unter ihnen nicht mehr gibt (vgl. auch
4, 32-37). Diese radikale Form der materiellen Gemeinschaft ließ sich freilich beim
Größerwerden der Kirche nicht aufrechterhalten. Der Kern, um den es ging, blieb aber
bestehen: Innerhalb der Gemeinschaft der Gläubigen darf es keine Armut derart geben,
daß jemandem die für ein menschenwürdiges Leben nötigen Güter versagt bleiben.
21.
Eine entscheidende Stufe im Ringen um die Durchführung dieses ekklesialen Grundprinzips
wird uns sichtbar in jener Wahl der sieben Männer, die der Ursprung des Diakonen-Amtes
war (vgl. Apg 6, 5-6). Hier ging es um die Ungleichheit in der täglichen Versorgung
der Witwen, die zwischen dem hebräisch und dem griechisch sprechenden Teil der Urkirche
entstanden war. Die Apostel, denen vor allem ,,das Gebet’’ (Eucharistie und Liturgie)
und der ,,Dienst am Wort’’ aufgetragen waren, sahen sich mit dem ,,Dienst an den Tischen’’
überfordert; sie beschlossen deshalb, bei ihrer zentralen Aufgabe zu bleiben und für
die andere, in der Kirche ebenfalls nötige Aufgabe das Siebener-Gremium zu schaffen,
das freilich auch keinen bloß technischen Verteilungsdienst leisten sollte: Es mußten
Männer ,,voll Geist und Weisheit’’ sein (vgl. Apg 6, 1-6). Das bedeutet, daß
der Sozialdienst, den sie zu leisten hatten, ein ganz konkreter, aber zugleich durchaus
geistlicher Dienst und ihr Amt daher ein wirklich geistliches Amt war, das einen der
Kirche wesentlichen Auftrag — eben die geordnete Nächstenliebe — wahrnahm. Mit der
Bildung dieses Siebener-Gremiums war nun die ,,diakonia’’ — der Dienst gemeinsamer,
geordnet geübter Nächstenliebe — in der grundlegenden Struktur der Kirche selbst verankert.
22.
Im Laufe der Zeit und mit der fortschreitenden Ausbreitung der Kirche wurde ihr Liebesdienst,
die Caritas, als ein ihr wesentlicher Sektor zusammen mit der Verwaltung der
Sakramente und der Verkündigung des Wortes festgelegt: Liebe zu üben für die Witwen
und Waisen, für die Gefangenen, für die Kranken und Notleidenden welcher Art auch
immer, gehört genauso zu ihrem Wesen wie der Dienst der Sakramente und die Verkündigung
des Evangeliums. Die Kirche kann den Liebesdienst so wenig ausfallen lassen wie Sakrament
und Wort. Einige Beispiele mögen genügen, um dies zu zeigen. Der Martyrer Justinus
(† ca. 155) schildert im Zusammenhang der sonntäglichen Zelebration der Christen auch
deren Liebestätigkeit, die mit der Eucharistie als solcher verknüpft ist: Die Besserstehenden
geben nach dem Maß ihrer Möglichkeiten, ein jeder, so viel er will; mit dem Erlös
unterstützt dann der Bischof die Waisen, die Witwen und diejenigen, die aufgrund von
Krankheit oder aus anderen Gründen sich in Not befinden, wie auch die Gefangenen und
die Fremden.12 Der große christliche Schriftsteller Tertullian († nach
220) erzählt, wie die Sorge der Christen für Notleidende aller Art das Staunen der
Heiden hervorruft.13 Und wenn Ignatius von Antiochien († um 117) die Kirche
von Rom die ,,Vorsitzende in der Liebe (Agape)’’ 14 nennt, darf
man wohl mit Sicherheit annehmen, daß er mit dieser Bezeichnung in gewisser Weise
auch ihre konkrete Liebestätigkeit zum Ausdruck bringen wollte.
23. In
diesem Zusammenhang mag ein Hinweis auf die frühen Rechtsgestalten der Liebestätigkeit
der Kirche nützlich sein. Etwa Mitte des 4. Jahrhunderts nimmt in Ägypten die sogenannte
,,Diakonie’’ Gestalt an; sie ist in den einzelnen Mönchsklöstern die Einrichtung,
die für die Gesamtheit der Fürsorgetätigkeit — der Caritas — die Verantwortung
trägt. Aus diesen Anfängen entwickelt sich in Ägypten bis zum 6. Jahrhundert eine
Körperschaft mit voller Rechtsfähigkeit, der der Staat sogar einen Teil des Kornes
zur öffentlichen Abgabe anvertraut. In Ägypten hatte schließlich nicht nur jedes Kloster,
sondern auch jede Diözese ihre Diakonie — eine Einrichtung, die sich dann sowohl im
Orient wie im Westen ausbreitet. Papst Gregor der Große († 604) berichtet von der
Diakonie zu Neapel. Für Rom sind die Diakonien ab dem 7. und 8. Jahrhundert belegt;
aber selbstverständlich ge- hörte die Fürsorgetätigkeit für die Armen und Leidenden
gemäß den in der Apostelgeschichte entwickelten Prinzipien christlichen Lebens
auch vorher schon und von Anfang an ganz wesentlich zur Kirche von Rom. Dieser Auftrag
hat in der Gestalt des Diakons Laurentius († 258) seinen lebendigen Ausdruck gefunden.
Die dramatische Darstellung seines Martyriums war schon dem heiligen Ambrosius (†
397) bekannt und zeigt uns in ihrem Kern sicher die authentische Gestalt des Heiligen.
Ihm war als dem Verantwortlichen für die römische Armenpflege nach der Verhaftung
seiner Mitbrüder und des Papstes noch etwas Zeit gelassen worden, die Schätze der
Kirche zu sammeln, um sie den weltlichen Instanzen abzuliefern. Laurentius verteilte
die verfügbaren Mittel an die Armen und stellte diese den Machthabern als den wahren
Schatz der Kirche vor.15 Wie immer man über die historische Gewißheit solcher
Details denken mag — Laurentius ist als großer Träger der kirchlichen Liebe in ihrem
Gedächtnis präsent geblieben.
24. Ein Hinweis auf die Gestalt des Kaisers
Julian des Apostaten († 363) kann noch einmal zeigen, wie wesentlich die organisierte
und praktisch geübte Nächstenliebe für die frühe Kirche war. Julian hatte als sechsjähriges
Kind die Ermordung seines Vaters, seines Bruders und anderer Verwandter durch die
Palastgarde erlebt und schrieb diese Brutalität — zu Recht oder zu Unrecht — dem Kaiser
Constanz zu, der sich als großer Christ ausgab. Damit war der christliche Glaube für
ihn ein für alle Mal diskreditiert. Als Kaiser entschloß er sich, das Heidentum, die
alte römische Religion, wiederherzustellen, zugleich aber sie zu reformieren, damit
sie wirklich tragende Kraft des Reiches werden könne. Dazu machte er reichlich Anleihen
beim Christentum. Er richtete eine Hierarchie aus Metropoliten und Priestern ein.
Die Priester sollten die Liebe zu Gott und zum Nächsten pflegen. In einem seiner Briefe
16 hatte er geschrieben, das einzige, was ihn am Christentum beeindrucke,
sei die Liebestätigkeit der Kirche. Und so war für sein neues Heidentum ein entscheidender
Punkt, dem Liebessystem der Kirche eine gleichartige Aktivität seiner Religion an
die Seite zu stellen. Die ,,Galiläer’’, so sagte er, hätten auf diesem Weg ihre Popularität
erworben. Man müsse es ihnen gleichtun und sie noch übertreffen. Auf diese Weise bestätigte
der Kaiser also, daß die praktizierte Nächstenliebe, die Caritas, ein entscheidendes
Kennzeichen der christlichen Gemeinde, der Kirche, war.
25. An diesem Punkt
halten wir zwei wesentliche Erkenntnisse aus unseren Überlegungen fest: a)
Das Wesen der Kirche drückt sich in einem dreifachen Auftrag aus: Verkündigung von
Gottes Wort (kerygma-martyria), Feier der Sakramente (leiturgia), Dienst
der Liebe (diakonia). Es sind Aufgaben, die sich gegenseitig bedingen und sich
nicht voneinander trennen lassen. Der Liebesdienst ist für die Kirche nicht eine Art
Wohlfahrtsaktivität, die man auch anderen überlassen könnte, sondern er gehört zu
ihrem Wesen, ist unverzichtbarer Wesensausdruck ihrer selbst.17
b)
Die Kirche ist Gottes Familie in der Welt. In dieser Familie darf es keine Notleidenden
geben. Zugleich aber überschreitet Caritas-Agape die Grenzen der Kirche:
Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter bleibt Maßstab, gebietet die Universalität
der Liebe, die sich dem Bedürftigen zuwendet, dem man ,,zufällig’’ (vgl. Lk 10,
31) begegnet, wer immer er auch sei. Unbeschadet dieser Universalität des Liebesgebotes
gibt es aber doch einen spezifisch kirchlichen Auftrag — eben den, daß in der Kirche
selbst als einer Familie kein Kind Not leiden darf. In diesem Sinn gilt das Wort aus
dem Galaterbrief: ,,Deshalb wollen wir, solange wir noch Zeit haben, allen
Menschen Gutes tun, besonders aber den Hausgenossen des Glaubens’’ (6, 10).
Gerechtigkeit
und Liebe
26. Gegen die kirchliche Liebestätigkeit erhebt sich seit dem
19. Jahrhundert ein Einwand, der dann vor allem vom marxistischen Denken nachdrücklich
entwickelt wurde. Die Armen, heißt es, bräuchten nicht Liebeswerke, sondern Gerechtigkeit.
Die Liebeswerke — die Almosen — seien in Wirklichkeit die Art und Weise, wie die Besitzenden
sich an der Herstellung der Gerechtigkeit vorbeidrückten, ihr Gewissen beruhigten,
ihre eigene Stellung festhielten und die Armen um ihr Recht betrügen würden. Statt
mit einzelnen Liebeswerken an der Aufrechterhaltung der bestehenden Verhältnisse mitzuwirken,
gelte es, eine Ordnung der Gerechtigkeit zu schaffen, in der alle ihren Anteil an
den Gütern der Welt erhielten und daher der Liebeswerke nicht mehr bedürften. An diesem
Argument ist zugegebenermaßen einiges richtig, aber vieles auch falsch. Richtig ist,
daß das Grundprinzip des Staates die Verfolgung der Gerechtigkeit sein muß und daß
es das Ziel einer gerechten Gesellschaftsordnung bildet, unter Berücksichtigung des
Subsidiaritätsprinzips jedem seinen Anteil an den Gütern der Gemeinschaft zu gewährleisten.
Das ist auch von der christlichen Staats- und Soziallehre immer betont worden. Die
Frage der gerechten Ordnung des Gemeinwesens ist — historisch betrachtet — mit der
Ausbildung der Industriegesellschaft im 19. Jahrhundert in eine neue Situation eingetreten.
Das Entstehen der modernen Industrie hat die alten Gesellschaftsstrukturen aufgelöst
und mit der Masse der lohnabhängigen Arbeiter eine radikale Veränderung im Aufbau
der Gesellschaft bewirkt, in der das Verhältnis von Kapital und Arbeit zur bestimmenden
Frage wurde, die es in dieser Form bisher nicht gegeben hatte. Die Produktionsstrukturen
und das Kapital waren nun die neue Macht, die, in die Hände weniger gelegt, zu einer
Rechtlosigkeit der arbeitenden Massen führte, gegen die aufzustehen war.
27.
Man muß zugeben, daß die Vertreter der Kirche erst allmählich wahrgenommen haben,
daß sich die Frage nach der gerechten Struktur der Gesellschaft in neuer Weise stellte.
Es gab Wegbereiter; einer von ihnen war zum Beispiel Bischof Ketteler von Mainz (†
1877). Als Antwort auf die konkreten Nöte entstanden Zirkel, Vereinigungen, Verbände,
Föderationen und vor allem neue Ordensgemeinschaften, die im 19. Jahrhundert den Kampf
gegen Armut, Krankheit und Bildungsnotstand aufnahmen. Das päpstliche Lehramt trat
im Jahr 1891 mit der von Leo XIII. veröffentlichen Enzyklika Rerum novarum
auf den Plan. Ihr folgte 1931 die von Pius XI. vorgelegte Enzyklika Quadragesimo
anno. Der selige Papst Johannes XXIII. veröffentlichte 1961 seine Enzyklika
Mater et Magistra, während Paul VI. in der Enzyklika Populorum progressio
(1967) und in dem Apostolischen Schreiben Octogesima adveniens (1971) nachdrücklich
auf die soziale Problematik einging, wie sie sich nun besonders in Lateinamerika verschärft
hatte. Mein großer Vorgänger Johannes Paul II. hat uns eine Trilogie von Sozial-Enzykliken
hinterlassen: Laborem exercens (1981), Sollicitudo rei socialis (1987)
sowie schließlich Centesimus annus (1991). So ist stetig in der Auseinandersetzung
mit den je neuen Situationen und Problemen eine Katholische Soziallehre gewachsen,
die in dem vom ,,Päpstlichen Rat für Gerechtigkeit und Frieden’’ 2004 vorgelegten
Kompendium der Soziallehre der Kirche zusammenhängend dargestellt ist. Der
Marxismus hatte die Weltrevolution und deren Vorbereitung als das Allheilmittel für
die soziale Problematik vorgestellt: Durch die Revolution und durch die damit verbundene
Vergesellschaftung der Produktionsmittel sollte — so diese Lehre — plötzlich alles
anders und besser werden. Dieser Traum ist zerronnen. In der schwierigen Situation,
in der wir heute gerade auch durch die Globalisierung der Wirtschaft stehen, ist die
Soziallehre der Kirche zu einer grundlegenden Wegweisung geworden, die weit über die
Kirche hinaus Orientierungen bietet. Angesichts der fortschreitenden Entwicklung muß
an diesen Orientierungen im Dialog mit all denen, die um den Menschen und seine Welt
ernstlich Sorge tragen, gemeinsam gerungen werden.
28. Um nun das Verhältnis
zwischen dem notwendigen Ringen um Gerechtigkeit und dem Dienst der Liebe genauer
zu klären, müssen zwei grundlegende Sachverhalte beachtet werden:
a)
Die gerechte Ordnung der Gesellschaft und des Staates ist zentraler Auftrag der Politik.
Ein Staat, der nicht durch Gerechtigkeit definiert wäre, wäre nur eine große Räuberbande,
wie Augustinus einmal sagte: ,,Remota itaque iustitia quid sunt regna nisi magna
latrocinia?’’.18 Zur Grundgestalt des Christentums gehört die Unterscheidung
zwischen dem, was des Kaisers und dem, was Gottes ist (vgl. Mt 22, 21), das
heißt die Unterscheidung von Staat und Kirche oder, wie das II. Vaticanum sagt, die
Autonomie des weltlichen Bereichs.19 Der Staat darf die Religion nicht
vorschreiben, sondern muß deren Freiheit und den Frieden der Bekenner verschiedener
Religionen untereinander gewährleisten; die Kirche als sozialer Ausdruck des christlichen
Glaubens hat ihrerseits ihre Unabhängigkeit und lebt aus dem Glauben heraus ihre Gemeinschaftsform,
die der Staat achten muß. Beide Sphären sind unterschieden, aber doch aufeinander
bezogen.
Gerechtigkeit ist Ziel und daher auch inneres Maß aller Politik.
Die Politik ist mehr als Technik der Gestaltung öffentlicher Ordnungen: Ihr Ursprung
und Ziel ist eben die Gerechtigkeit, und die ist ethischer Natur. So steht der Staat
praktisch unabweisbar immer vor der Frage: Wie ist Gerechtigkeit hier und jetzt zu
verwirklichen? Aber diese Frage setzt die andere, grundsätzlichere voraus: Was ist
Gerechtigkeit? Dies ist eine Frage der praktischen Vernunft; aber damit die Vernunft
recht funktionieren kann, muß sie immer wieder gereinigt werden, denn ihre ethische
Erblindung durch das Obsiegen des Interesses und der Macht, die die Vernunft blenden,
ist eine nie ganz zu bannende Gefahr.
An dieser Stelle berühren sich Politik
und Glaube. Der Glaube hat gewiß sein eigenes Wesen als Begegnung mit dem lebendigen
Gott — eine Begegnung, die uns neue Horizonte weit über den eigenen Bereich der Vernunft
hinaus öffnet. Aber er ist zugleich auch eine reinigende Kraft für die Vernunft selbst.
Er befreit sie von der Perspektive Gottes her von ihren Verblendungen und hilft ihr
deshalb, besser sie selbst zu sein. Er ermöglicht der Vernunft, ihr eigenes Werk besser
zu tun und das ihr Eigene besser zu sehen. Genau hier ist der Ort der Katholischen
Soziallehre anzusetzen: Sie will nicht der Kirche Macht über den Staat verschaffen;
sie will auch nicht Einsichten und Verhaltensweisen, die dem Glauben zugehören, denen
aufdrängen, die diesen Glauben nicht teilen. Sie will schlicht zur Reinigung der Vernunft
beitragen und dazu helfen, daß das, was recht ist, jetzt und hier erkannt und dann
auch durchgeführt werden kann.
Die Soziallehre der Kirche argumentiert
von der Vernunft und vom Naturrecht her, das heißt von dem aus, was allen Menschen
wesensgemäß ist. Und sie weiß, daß es nicht Auftrag der Kirche ist, selbst diese Lehre
politisch durchzusetzen: Sie will der Gewissensbildung in der Politik dienen und helfen,
daß die Hellsichtigkeit für die wahren Ansprüche der Gerechtigkeit wächst und zugleich
auch die Bereitschaft, von ihnen her zu handeln, selbst wenn das verbreiteten Interessenlagen
widerspricht. Das bedeutet aber: Das Erbauen einer gerechten Gesellschafts- und Staatsordnung,
durch die jedem das Seine wird, ist eine grundlegende Aufgabe, der sich jede Generation
neu stellen muß. Da es sich um eine politische Aufgabe handelt, kann dies nicht der
unmittelbare Auftrag der Kirche sein. Da es aber zugleich eine grundlegende menschliche
Aufgabe ist, hat die Kirche die Pflicht, auf ihre Weise durch die Reinigung der Vernunft
und durch ethische Bildung ihren Beitrag zu leisten, damit die Ansprüche der Gerechtigkeit
einsichtig und politisch durchsetzbar werden.
Die Kirche kann nicht und
darf nicht den politischen Kampf an sich reißen, um die möglichst gerechte Gesellschaft
zu verwirklichen. Sie kann und darf nicht sich an die Stelle des Staates setzen. Aber
sie kann und darf im Ringen um Gerechtigkeit auch nicht abseits bleiben. Sie muß auf
dem Weg der Argumentation in das Ringen der Vernunft eintreten, und sie muß die seelischen
Kräfte wecken, ohne die Gerechtigkeit, die immer auch Verzichte verlangt, sich nicht
durchsetzen und nicht gedeihen kann. Die gerechte Gesellschaft kann nicht das Werk
der Kirche sein, sondern muß von der Politik geschaffen werden. Aber das Mühen um
die Gerechtigkeit durch eine Öffnung von Erkenntnis und Willen für die Erfordernisse
des Guten geht sie zutiefst an.
b) Liebe — Caritas
— wird immer nötig sein, auch in der gerechtesten Gesellschaft. Es gibt keine gerechte
Staatsordnung, die den Dienst der Liebe überflüssig machen könnte. Wer die Liebe abschaffen
will, ist dabei, den Menschen als Menschen abzuschaffen. Immer wird es Leid geben,
das Tröstung und Hilfe braucht. Immer wird es Einsamkeit geben. Immer wird es auch
die Situationen materieller Not geben, in denen Hilfe im Sinn gelebter Nächstenliebe
nötig ist.20 Der totale Versorgungsstaat, der alles an sich zieht, wird
letztlich zu einer bürokratischen Instanz, die das Wesentliche nicht geben kann, das
der leidende Mensch — jeder Mensch — braucht: die liebevolle persönliche Zuwendung.
Nicht den alles regelnden und beherrschenden Staat brauchen wir, sondern den Staat,
der entsprechend dem Subsidiaritätsprinzip großzügig die Initiativen anerkennt und
unterstützt, die aus den verschiedenen gesellschaftlichen Kräften aufsteigen und Spontaneität
mit Nähe zu den hilfsbedürftigen Menschen verbinden. Die Kirche ist eine solche lebendige
Kraft: In ihr lebt die Dynamik der vom Geist Christi entfachten Liebe, die den Menschen
nicht nur materielle Hilfe, sondern auch die seelische Stärkung und Heilung bringt,
die oft noch nötiger ist als die materielle Unterstützung. Die Behauptung, gerechte
Strukturen würden die Liebestätigkeit überflüssig machen, verbirgt tatsächlich ein
materialistisches Menschenbild: den Aberglauben, der Mensch lebe ,,nur von Brot’’
(Mt 4, 4; vgl. Dtn 8, 3) — eine Überzeugung, die den Menschen erniedrigt
und gerade das spezifisch Menschliche verkennt. 29. So können wir nun das Verhältnis
zwischen dem Ringen um die gerechte Ordnung von Staat und Gesellschaft einerseits
und dem gemeinschaftlich geordneten Tun der Liebe andererseits im Leben der Kirche
näher bestimmen. Es hat sich gezeigt, daß der Aufbau gerechter Strukturen nicht unmittelbar
Auftrag der Kirche ist, sondern der Ordnung der Politik — dem Bereich der selbstverantwortlichen
Vernunft — zugehört. Die Kirche hat dabei eine mittelbare Aufgabe insofern, als ihr
zukommt, zur Reinigung der Vernunft und zur Weckung der sittlichen Kräfte beizutragen,
ohne die rechte Strukturen weder gebaut werden noch auf Dauer wirksam sein können.
Die
unmittelbare Aufgabe, für eine gerechte Ordnung in der Gesellschaft zu wirken, kommt
dagegen eigens den gläubigen Laien zu. Als Staatsbürger sind sie berufen, persönlich
am öffentlichen Leben teilzunehmen. Sie können daher nicht darauf verzichten, sich
einzuschalten ,,in die vielfältigen und verschiedenen Initiativen auf wirtschaftlicher,
sozialer, gesetzgebender, verwaltungsmäßiger und kultureller Ebene, die der organischen
und institutionellen Förderung des Gemeinwohls dienen’’.21 Aufgabe der
gläubigen Laien ist es also, das gesellschaftliche Leben in rechter Weise zu gestalten,
indem sie dessen legitime Eigenständigkeit respektieren und mit den anderen Bürgern
gemäß ihren jeweiligen Kompetenzen und in eigener Verantwortung zusammenarbeiten.22
Auch wenn die spezifischen Ausdrucksformen der kirchlichen Liebestätigkeit niemals
mit der Aktivität des Staates nivelliert werden dürfen, bleibt doch unbestritten,
daß die Liebe das gesamte Leben der gläubigen Laien beseelen muß und folglich auch
ihr politisches Wirken im Sinne einer ,,sozialen Liebe’’ 23 prägt.
Die
karitativen Organisationen der Kirche stellen dagegen ihr opus proprium dar,
eine ihr ureigenste Aufgabe, in der sie nicht mitwirkend zur Seite steht, sondern
als unmittelbar verantwortliches Subjekt selbst handelt und das tut, was ihrem Wesen
entspricht. Von der Übung der Liebestätigkeit als gemeinschaftlich geordneter Aktivität
der Gläubigen kann die Kirche nie dis- pensiert werden, und es wird andererseits auch
nie eine Situation geben, in der man der praktischen Nächstenliebe jedes einzelnen
Christen nicht bedürfte, weil der Mensch über die Gerechtigkeit hinaus immer Liebe
braucht und brauchen wird.
Die vielfältigen Strukturen
des Liebesdienstes im heutigen sozialen Umfeld 30. Bevor ich versuche, das
spezifische Profil der kirchlichen Aktivitäten im Dienst des Menschen zu definieren,
möchte ich nun einen Blick auf die allgemeine Lage im Ringen um Gerechtigkeit und
Liebe in der heutigen Welt werfen.
a) Die Massenkommunikationsmittel
haben heute unseren Planeten kleiner werden lassen, indem sie unterschiedlichste Menschen
und Kulturen schnell einander erheblich näher gebracht haben. Wenngleich dieses ,,Zusammenleben’’
gelegentlich zu Unverständnis und Spannungen führt, so stellt doch die Tatsache, daß
man nun die Nöte der Menschen viel direkter erfährt, vor allem einen Aufruf zur Anteilnahme
an ihrer Situation und an ihren Schwierigkeiten dar. Täglich wird uns bewußt, wie
viel Leid es aufgrund vielgestaltiger materieller wie auch geistiger Not in der Welt
gibt, und das trotz der großen Fortschritte auf wissenschaftlichem und technischem
Gebiet. Folglich ist in dieser unserer Zeit eine neue Bereitschaft gefragt, dem notleidenden
Nächsten zu helfen. Schon das Zweite Vatikanische Konzil hat das mit sehr deutlichen
Worten hervorgehoben: ,,Heute, da die Kommunikationsmittel immer vollkommener arbeiten,
die Entfernungen unter den Menschen sozusagen überwunden sind [...] kann und muß das
karitative Tun alle Menschen und Nöte umfassen''.24
Andererseits
— und das ist ein herausfordern- der und zugleich ermutigender Aspekt der Globalisierung
— stehen uns heute unzählige Mittel zur Verfügung, um den notleidenden Brüdern und
Schwestern humanitäre Hilfe zukommen zu lassen, nicht zuletzt die modernen Systeme
zur Verteilung von Nahrung und Kleidung sowie zur Bereitstellung von Aufnahme- und
Unterbringungsmöglichkeiten. So überwindet die Sorge für den Nächsten die Grenzen
nationaler Gemeinschaften und ist bestrebt, ihre Horizonte auf die gesamte Welt auszuweiten.
Zu Recht hat das Zweite Vatikanische Konzil hervorgehoben: ,,Unter den charakteristischen
Zeichen unserer Zeit verdient der wachsende und unwiderstehliche Sinn für die Solidarität
aller Völker besondere Beachtung’’.25 Die staatlichen Einrichtungen und
die humanitären Vereinigungen unterstützen diesbezügliche Initiativen, die einen durch
Beihilfen oder Steuererleichterungen, die anderen indem sie beträchtliche Geldmittel
zur Verfügung stellen. Auf diese Weise übertrifft die von der menschlichen Gemeinschaft
ausgedrückte Solidarität die der Einzelnen erheblich.
b)
In dieser Situation sind zahlreiche Formen der Zusammenarbeit zwischen staatlichen
und kirchlichen Instanzen entstanden und gewachsen, die sich als fruchtbar erwiesen
haben. Die kirchlichen Instanzen können mit der Transparenz ihres Wirkens und der
treuen Erfüllung ihrer Pflicht, die Liebe zu bezeugen, auch die zivilen Instanzen
mit christlichem Geist befruchten und eine wechselseitige Abstimmung fördern, die
zweifellos der Wirksamkeit des karitativen Dienstes nützlich sein wird.26
Ebenso haben sich in diesem Kontext vielfältige Organisationen mit karitativen oder
philantropischen Zielen gebildet, die sich dafür einsetzen, angesichts der bestehenden
politischen und sozialen Probleme unter dem humanitären Aspekt zufriedenstellende
Lösungen zu erreichen. Ein wichtiges Phänomen unserer Zeit ist das Entstehen und die
Ausbreitung verschiedener Formen des Volontariats, die eine Vielfalt von Dienstleistungen
übernehmen.27 An alle, die sich in unterschiedlicher Form an diesen Aktivitäten
beteiligen, möchte ich ein besonderes Wort der Anerkennung und der Dankbarkeit richten.
Dieser verbreitete Einsatz ist für die Jugendlichen eine Schule für das Leben, die
zur Solidarität und zu der Bereitschaft erzieht, nicht einfach etwas, sondern sich
selbst zu geben. Der Anti-Kultur des Todes, die sich zum Beispiel in der Droge ausdrückt,
tritt damit die Liebe entgegen, die nicht sich selber sucht, sondern gerade in der
Bereitschaft des Sich-Verlierens für den anderen (vgl. Lk 17, 33 par.) sich
als eine Kultur des Lebens erweist.
Auch in der katholischen Kirche und
in anderen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften sind neue Formen karitativen Wirkens
entstanden und haben sich alte mit neuer Kraft entfaltet — Formen, in denen häufig
eine glückliche Verbindung von Evangelisierung und Liebeswerk gelingt. Ich möchte
an dieser Stelle ausdrücklich bekräftigen, was mein großer Vorgänger Johannes Paul
II. in seiner Enzyklika Sollicitudo rei socialis28 geschrieben
hat, als er die Bereitschaft der katholischen Kirche zur Zusammenarbeit mit den karitativen
Organisationen dieser Kirchen und Gemeinschaften erklärte, da wir ja alle von der
gleichen Grundmotivation ausgehend handeln und so das gleiche Ziel vor Augen haben:
einen wahren Humanismus, der im Menschen das Ebenbild Gottes erkennt und ihm helfen
will, ein Leben gemäß dieser seiner Würde zu verwirklichen. Die Enzyklika Ut unum
sint hat dann noch einmal betont, daß für eine Entwicklung der Welt zum Besseren
hin die gemeinsame Stimme der Christen und ihr Einsatz nötig ist, damit ,,der Achtung
der Rechte und der Bedürfnisse aller, besonders der Armen, der Gedemütigten und der
Schutzlosen zum Sieg verholfen wird’’.29 Ich möchte an dieser Stelle meine
Freude darüber ausdrücken, daß dieser Wunsch in der ganzen Welt in zahlreichen Initiativen
ein breites Echo gefunden hat.
Das spezifische Profil der kirchlichen
Liebestätigkeit 31. Das Zunehmen vielfältiger Organisationen, die sich um
den Menschen in seinen verschiedenen Nöten mühen, erklärt sich letztlich daraus, daß
der Imperativ der Nächstenliebe vom Schöpfer in die Natur des Menschen selbst eingeschrieben
ist. Es ist aber auch ein Ergebnis der Gegenwart des Christentums in der Welt, die
diesen in der Geschichte oft tief verdunkelten Imperativ immer wieder weckt und zur
Wirkung bringt: Das Reformheidentum von Kaiser Julian dem Apostaten ist für diese
Wirkung nur ein frühes Beispiel. In diesem Sinn reicht die Kraft des Christentums
weit über die Grenzen des christlichen Glaubens hinaus. Um so wichtiger ist es, daß
das kirchliche Liebeshandeln seine volle Leuchtkraft behält und nicht einfach als
eine Variante im allgemeinen Wohlfahrtswesen aufgeht. Was sind nun die konstitutiven
Elemente, die das Wesen christlicher und kirchlicher Liebestätigkeit bilden?
a)
Nach dem Vorbild, das das Gleichnis vom barmherzigen Samariter uns vor Augen stellt,
ist christliche Liebestätigkeit zunächst einfach die Antwort auf das, was in einer
konkreten Situation unmittelbar not tut: Die Hungrigen müssen gespeist, die Nackten
gekleidet, die Kranken auf Heilung hin behandelt, die Gefangenen besucht werden usw.
Die karitativen Organisationen der Kirche — angefangen bei denen der (diözesanen,
nationalen und internationalen) ,,Caritas’’ — müssen das ihnen Mögliche tun, damit
die Mittel dafür und vor allem die Menschen bereitstehen, die solche Aufgaben übernehmen.
Was nun den Dienst der Menschen an den Leidenden betrifft, so ist zunächst berufliche
Kompetenz nötig: Die Helfer müssen so ausgebildet sein, daß sie das Rechte auf rechte
Weise tun und dann für die weitere Betreuung Sorge tragen können. Berufliche Kompetenz
ist eine erste, grundlegende Notwendigkeit, aber sie allein genügt nicht. Es geht
ja um Menschen, und Menschen brauchen immer mehr als eine bloß technisch richtige
Behandlung. Sie brauchen Menschlichkeit. Sie brauchen die Zuwendung des Herzens. Für
alle, die in den karitativen Organisationen der Kirche tätig sind, muß es kennzeichnend
sein, daß sie nicht bloß auf gekonnte Weise das jetzt Anstehende tun, sondern sich
dem andern mit dem Herzen zuwenden, so daß dieser ihre menschliche Güte zu spüren
bekommt. Deswegen brauchen diese Helfer neben und mit der beruflichen Bildung vor
allem Her- zensbildung: Sie müssen zu jener Begegnung mit Gott in Christus geführt
werden, die in ihnen die Liebe weckt und ihnen das Herz für den Nächsten öffnet, so
daß Nächstenliebe für sie nicht mehr ein sozusagen von außen auferlegtes Gebot ist,
sondern Folge ihres Glaubens, der in der Liebe wirksam wird (vgl. Gal 5, 6).
b)
Das christliche Liebeshandeln muß unabhängig sein von Parteien und Ideologien. Es
ist nicht ein Mittel ideologisch gesteuerter Weltveränderung und steht nicht im Dienst
weltlicher Strategien, sondern ist hier und jetzt Vergegenwärtigung der Liebe, deren
der Mensch immer bedarf. Die Neuzeit ist vor allem seit dem 19. Jahrhundert beherrscht
von verschiedenen Variationen einer Philosophie des Fortschritts, deren radikalste
Form der Marxismus darstellt. Zur marxistischen Strategie gehört die Verelendungstheorie.
Sie behauptet, wer in einer Situation ungerechter Herrschaft dem Menschen karitativ
helfe, stelle sich faktisch in den Dienst des bestehenden Unrechtssystems, indem er
es scheinbar, wenigstens bis zu einem gewissen Grad, erträglich mache. So werde das
revolutionäre Potential gehemmt und damit der Umbruch zur besseren Welt aufgehalten.
Deswegen wird karitativer Einsatz als systemstabilisierend de- nunziert und angegriffen.
In Wirklichkeit ist dies eine Philosophie der Unmenschlichkeit. Der jetzt lebende
Mensch wird dem Moloch Zukunft geopfert, einer Zukunft, deren wirkliches Heraufkommen
zumindest zweifelhaft bleibt. In Wahrheit kann die Menschlichkeit der Welt nicht dadurch
gefördert werden, daß man sie einstweilen stillegt. Zu einer besseren Welt trägt man
nur bei, indem man selbst jetzt das Gute tut, mit aller Leidenschaft und wo immer
die Möglichkeit besteht, unabhängig von Parteistrategien und -programmen. Das Programm
des Christen — das Programm des barmherzigen Samariters, das Programm Jesu — ist das
,,sehende Herz’’. Dieses Herz sieht, wo Liebe not tut und handelt danach. Wenn die
karitative Aktivität von der Kirche als gemeinschaftliche Initiative ausgeübt wird,
sind über die Spontaneität des einzelnen hinaus selbstverständlich auch Planung, Vorsorge
und Zusammenarbeit mit anderen ähnlichen Einrichtungen notwendig.
c)
Außerdem darf praktizierte Nächstenliebe nicht Mittel für das sein, was man heute
als Proselytismus bezeichnet. Die Liebe ist umsonst; sie wird nicht getan, um damit
andere Ziele zu erreichen.30 Das bedeutet aber nicht, daß das karitative
Wirken sozusagen Gott und Christus beiseite lassen müßte. Es ist ja immer der ganze
Mensch im Spiel. Oft ist gerade die Abwesenheit Gottes der tiefste Grund des Leidens.
Wer im Namen der Kirche karitativ wirkt, wird niemals dem anderen den Glauben der
Kirche aufzudrängen versuchen. Er weiß, daß die Liebe in ihrer Reinheit und Absichtslosigkeit
das beste Zeugnis für den Gott ist, dem wir glauben und der uns zur Liebe treibt.
Der Christ weiß, wann es Zeit ist, von Gott zu reden, und wann es recht ist, von ihm
zu schweigen und nur einfach die Liebe reden zu lassen. Er weiß, daß Gott Liebe ist
(vgl. 1 Joh 4, 8) und gerade dann gegenwärtig wird, wenn nichts als Liebe getan
wird. Er weiß — um auf die vorhin gestellten Fragen zurückzukommen —, daß die Verächtlichmachung
der Liebe eine Verächtlichmachung Gottes und des Menschen ist — der Versuch, ohne
Gott auszukommen. Daher besteht die beste Verteidigung Gottes und des Menschen eben
in der Liebe. Aufgabe der karitativen Organisationen der Kirche ist es, dieses Bewußtsein
in ihren Vertretern zu kräftigen, so daß sie durch ihr Tun wie durch ihr Reden, ihr
Schweigen, ihr Beispiel glaubwürdige Zeugen Christi werden.
Die
Träger des karitativen Handelns der Kirche
32. Schließlich müssen wir
uns noch den bereits erwähnten Trägern des karitativen Handelns der Kirche zuwenden.
In den bisherigen Überlegungen ist schon klar geworden, daß das eigentliche Subjekt
der verschiedenen katholischen Organisationen, die einen karitativen Dienst leisten,
die Kirche selber ist, und zwar auf allen Ebenen, angefangen von den Pfarreien über
die Teilkirchen bis zur Universalkirche. Deshalb war es durchaus angebracht, daß mein
verehrter Vorgänger Paul VI. den ,,Päpstlichen Rat Cor unum’’ als eine für
die Orientierung und Koordination der von der Kirche geförderten karitativen Organisationen
und Aktivitäten verantwortliche Instanz des Heiligen Stuhls eingerichtet hat. Der
bischöflichen Struktur der Kirche entspricht es, daß dann in den Teilkirchen die Bischöfe
als Nachfolger der Apostel die erste Verantwortung dafür tragen, daß das Programm
der Apostelgeschichte (vgl. 2, 42-44) auch heute realisiert wird: Kirche als
Familie Gottes muß heute wie gestern ein Ort der gegenseitigen Hilfe sein und zugleich
ein Ort der Dienstbereitschaft für alle der Hilfe Bedürftigen, auch wenn diese nicht
zur Kirche gehören. Bei der Bischofsweihe gehen dem eigentlichen Weiheakt Fragen an
den Kandidaten voraus, in denen die wesentlichen Elemente seines Dienstes angesprochen
und ihm die Pflichten seines zukünftigen Amtes vorgestellt werden. In diesem Zusammenhang
verspricht der zu Weihende ausdrücklich, ,,um des Herrn willen den Armen und den Heimatlosen
und allen Notleidenden gütig zu begegnen und zu ihnen barmherzig zu sein’’.31
Der Kodex des Kanonischen Rechts (C.I.C.) behandelt in den Canones über
das Bischofsamt die karitative Aktivität nicht ausdrücklich als eigenen Sektor des
bischöflichen Wirkens, sondern spricht nur ganz allgemein von dem Auftrag des Bischofs,
die verschiedenen apostolischen Werke unter Wahrung ihres je eigenen Charakters zu
koordinieren.32 Kürzlich hat jedoch das Direktorium für den pastoralen
Dienst der Bischöfe die Pflicht zu karitativem Tun als Wesensauftrag der Kirche
im ganzen und des Bischofs in seiner Diözese konkreter entfaltet 33 und
hervorgehoben, daß der Liebesdienst ein Akt der Kirche als solcher ist und daß er
ebenso wie der Dienst am Wort und an den Sakramenten einen Wesensteil ihres grundlegenden
Auftrags darstellt.34 33. Was die Mitarbeiter betrifft, die praktisch
das Werk der Nächstenliebe in der Kirche tun., so ist das Wesentliche schon gesagt
worden: Sie dürfen sich nicht nach den Ideologien der Weltverbesserung richten, sondern
müssen sich von dem Glauben führen lassen, der in der Liebe wirksam wird (vgl.
Gal 5, 6). Sie müssen daher zuallererst Menschen sein, die von der Liebe Christi
berührt sind, deren Herz Christus mit seiner Liebe gewonnen und darin die Liebe zum
Nächsten geweckt hat. Ihr Leitwort sollte der Satz aus dem Zweiten Korintherbrief
sein: ,,Die Liebe Christi drängt uns’’ (5, 14). Die Erkenntnis, daß in ihm Gott selbst
sich für uns verschenkt hat bis in den Tod hinein, muß uns dazu bringen, nicht mehr
für uns selber zu leben, sondern für ihn und mit ihm für die anderen. Wer Christus
liebt, liebt die Kirche und will, daß sie immer mehr Ausdruck und Organ seiner Liebe
sei. Der Mitarbeiter jeder katholischen karitativen Organisation will mit der Kirche
und daher mit dem Bischof dafür arbeiten, daß sich die Liebe Gottes in der Welt ausbreitet.
Er will durch sein Teilnehmen am Liebestun der Kirche Zeuge Gottes und Christi sein
und gerade darum absichtslos den Menschen Gutes tun.
34. Das innere Offensein
für die katholische Dimension der Kirche wird in dem Mitarbeiter zwangsläufig die
Bereitschaft fördern, sich mit den anderen Organisationen im Dienst an den verschiedenen
Formen der Bedürftigkeit abzustimmen; das muß jedoch unter Berücksichtigung des spezifischen
Profils des Dienstes geschehen, den Christus von seinen Jüngern erwartet. In seinem
Hymnus auf die Liebe lehrt uns der heilige Paulus (1 Kor 13), daß Liebe immer
mehr ist als bloße Aktion: ,,Wenn ich meine ganze Habe verschenkte und wenn ich meinen
Leib dem Feuer übergäbe, hätte aber die Liebe nicht, nützte es mir nichts’’ (V. 3).
Dieser Hymnus muß die Magna Charta allen kirchlichen Dienens sein; in ihm sind
alle Überlegungen zusammengefaßt, die ich im Laufe dieses Schreibens über die Liebe
entwickelt habe. Die praktische Aktion bleibt zu wenig, wenn in ihr nicht die Liebe
zum Menschen selbst spürbar wird, die sich von der Begegnung mit Christus nährt. Das
persönliche, innere Teilnehmen an der Not und am Leid des anderen wird so Teilgabe
meiner selbst für ihn: Ich muß dem anderen, damit die Gabe ihn nicht erniedrigt, nicht
nur etwas von mir, sondern mich selbst geben, als Person darin anwesend sein.
35.
Dieses rechte Dienen macht den Helfer demütig. Er setzt sich nicht in eine höhere
Position dem andern gegenüber, wie armselig dessen Situation im Augenblick auch sein
mag. Christus hat den letzten Platz in der Welt — das Kreuz — eingenommen, und gerade
mit dieser radikalen Demut hat er uns erlöst und hilft uns fortwährend. Wer in der
Lage ist zu helfen, erkennt, daß gerade so auch ihm selber geholfen wird und daß es
nicht sein Verdienst und seine Größe ist, helfen zu können. Dieser Auftrag ist Gnade.
Je mehr einer für die anderen wirkt, desto mehr wird er das Wort Christi verstehen
und sich zueignen: ,,Unnütze Knechte sind wir’’ (Lk 17, 10). Denn er erkennt,
daß er nicht aufgrund eigener Größe oder Leistung handelt, sondern weil der Herr es
ihm gibt. Manchmal kann ihm das Übermaß der Not und die Grenze seines eigenen Tuns
Versuchung zur Mutlosigkeit werden. Aber gerade dann wird ihm helfen zu wissen, daß
er letzten Endes nur Werkzeug in der Hand des Herrn ist, er wird sich von dem Hochmut
befreien, selbst und aus Eigenem die nötige Verbesserung der Welt zustande bringen
zu müssen. Er wird in Demut das tun, was ihm möglich ist und in Demut das andere dem
Herrn überlassen. Gott regiert die Welt, nicht wir. Wir dienen ihm nur, soweit wir
können und er uns die Kraft dazu gibt. Mit dieser Kraft freilich alles zu tun, was
wir vermögen, ist der Auftrag, der den rechten Diener Jesu Christi gleichsam immerfort
in Bewegung hält: ,,Die Liebe Christi drängt uns’’ (2 Kor 5, 14).
36.
Die Erfahrung der Endlosigkeit der Not kann uns einerseits in die Ideologie treiben,
die vorgibt, nun das zu tun, was Gottes Weltregierung allem Anschein nach nicht ausrichtet
— die universale Lösung des Ganzen. Sie kann andererseits Versuchung zur Trägheit
werden, weil es scheint, da wäre ja doch nichts zu erreichen. In dieser Situation
ist der lebendige Kontakt mit Christus die entscheidende Hilfe, um auf dem rechten
Weg zu bleiben: weder in menschenverachtenden Hochmut zu verfallen, der nicht wirklich
aufbaut, sondern vielmehr zerstört, noch sich der Resignation anheimzugeben, die verhindern
würde, sich von der Liebe führen zu lassen und so dem Menschen zu dienen. Das Gebet
als die Weise, immer neu von Christus her Kraft zu holen, wird hier zu einer ganz
praktischen Dringlichkeit. Wer betet, vertut nicht seine Zeit, selbst wenn die Situation
alle Anzeichen der Dringlichkeit besitzt und einzig zum Handeln zu treiben scheint.
Die Frömmigkeit schwächt nicht den Kampf gegen die Armut oder sogar das Elend des
Nächsten. Die selige Theresa von Kalkutta ist ein sehr offenkundiges Beispiel dafür,
daß die Gott im Gebet gewidmete Zeit dem tatsächlichen Wirken der Nächstenliebe nicht
nur nicht schadet, sondern in Wirklichkeit dessen unerschöpfliche Quelle ist. In ihrem
Brief zur Fastenzeit 1996 schrieb die Selige an ihre Mitarbeiter im Laienstand: ,,Wir
brauchen diese innige Verbindung zu Gott in unserem Alltagsleben. Und wie können wir
sie erhalten? Durch das Gebet’’.
37. Es ist Zeit, angesichts des Aktivismus
und des drohenden Säkularismus vieler in der karitativen Arbeit beschäftigter Christen
die Bedeutung des Gebetes erneut zu bekräftigen. Der betende Christ bildet sich selbstverständlich
nicht ein, Gottes Pläne zu ändern, oder zu verbessern, was Gott vorgesehen hat. Er
sucht vielmehr die Begegnung mit dem Vater Jesu Christi und bittet, daß er mit dem
Trost seines Geistes in ihm und in seinem Wirken gegenwärtig sei. Die Vertrautheit
mit dem persönlichen Gott und die Hingabe an seinen Willen verhindern, daß der Mensch
Schaden nimmt, und bewahren ihn vor den Fängen fanatischer und terroristischer Lehren.
Eine echt religiöse Grundhaltung vermeidet, daß der Mensch sich zum Richter Gottes
erhebt und ihn anklagt, das Elend zuzulassen, ohne Mitleid mit seinen Geschöpfen zu
verspüren. Wer sich aber anmaßt, unter Berufung auf die Interessen des Menschen gegen
Gott zu kämpfen — auf wen soll er sich verlassen, wenn das menschliche Handeln sich
als machtlos erweist?
38. Natürlich kann Ijob sich bei Gott beklagen über
das unbegreifliche und augenscheinlich nicht zu rechtfertigende Leiden, das in der
Welt existiert. So sagt er in seinem Schmerz: ,,Wüßte ich doch, wie ich ihn finden
könnte, gelangen könnte zu seiner Stätte! ... Wissen möchte ich die Worte, die er
mir entgegnet, erfahren, was er zu mir sagt. Würde er in der Fülle der Macht mit mir
streiten? ... Darum erschrecke ich vor seinem Angesicht; denk' ich daran, gerate ich
in Angst vor ihm. Gott macht mein Herz verzagt, der Allmächtige versetzt mich in Schrecken’’
(23, 3. 5-6. 15-16). Oft ist es uns nicht gegeben, den Grund zu kennen, warum Gott
seinen Arm zurückhält, anstatt einzugreifen. Im Übrigen verbietet er uns nicht einmal,
wie Jesus am Kreuz zu schreien: ,,Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?’’
(Mt 27, 46). In betendem Dialog sollten wir mit dieser Frage vor seinem Angesicht
ausharren: ,,Wie lange zögerst du noch, Herr, du Heiliger und Wahrhaftiger?’’ (Offb
6, 10). Augustinus gibt auf dieses unser Leiden die Antwort aus dem Glauben: ,,Si
comprehendis, non est Deus — Wenn du ihn verstehst, dann ist er nicht Gott’’.35
Unser Protest will Gott nicht herausfordern, noch ihm Irrtum, Schwäche oder Gleichgültigkeit
unterstellen. Dem Glaubenden ist es unmöglich zu denken, Gott sei machtlos, oder aber
er ,,schlafe’’ (vgl. 1 Kön 18, 27). Vielmehr trifft zu, daß sogar unser Schreien,
wie das Jesu am Kreuz, die äußerste und tiefste Bestätigung unseres Glaubens an seine
Souveränität ist. Christen glauben nämlich trotz aller Unbegreiflichkeiten und Wirrnisse
ihrer Umwelt weiterhin an die ,,Güte und Menschenliebe Gottes’’ (Tit 3, 4).
Obwohl sie wie alle anderen Menschen eingetaucht sind in die dramatische Komplexität
der Ereignisse der Geschichte, bleiben sie gefestigt in der Hoffnung, daß Gott ein
Vater ist und uns liebt, auch wenn uns sein Schweigen unverständlich bleibt.
39.
Glaube, Hoffnung und Liebe gehören zusammen. Die Hoffnung artikuliert sich praktisch
in der Tugend der Geduld, die im Guten auch in der scheinbaren Erfolglosigkeit nicht
nachläßt, und in der Tugend der Demut, die Gottes Geheimnis annimmt und ihm auch im
Dunklen traut. Der Glaube zeigt uns den Gott, der seinen Sohn für uns hingegeben hat,
und gibt uns so die überwältigende Gewißheit, daß es wahr ist: Gott ist Liebe! Auf
diese Weise verwandelt er unsere Ungeduld und unsere Zweifel in Hoffnungsgewißheit,
daß Gott die Welt in Händen hält und daß er trotz allen Dunkels siegt, wie es in ihren
erschütternden Bildern zuletzt strahlend die Geheime Offenbarung zeigt. Der
Glaube, das Innewerden der Liebe Gottes, die sich im durchbohrten Herzen Jesu am Kreuz
offenbart hat, erzeugt seinerseits die Liebe. Sie ist das Licht — letztlich das einzige
–, das eine dunkle Welt immer wieder erhellt und uns den Mut zum Leben und zum Handeln
gibt. Die Liebe ist möglich, und wir können sie tun, weil wir nach Gottes Bild geschaffen
sind. Die Liebe zu verwirklichen und damit das Licht Gottes in die Welt einzulassen
— dazu möchte ich mit diesem Rundschreiben einladen.
SCHLUSS
40.
Schauen wir zuletzt hin auf die Heiligen, auf die, welche die Liebe in beispielhafter
Weise verwirklicht haben. Im besonderen denken wir dabei an Martin von Tours († 397),
den Soldaten, der später Mönch und Bischof wurde: Wie eine Ikone verdeutlicht er den
unersetzlichen Wert des individuellen Liebes-Zeugnisses. Vor den Toren von Amiens
teilt Martin seinen Mantel mit einem Armen. In der folgenden Nacht erscheint ihm,
mit diesem Mantel bekleidet, Jesus selbst im Traum, um die ewige Gültigkeit der Worte
aus dem Evangelium zu bestätigen: ,,Ich war nackt, und ihr habt mir Kleidung gegeben
... Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan
(Mt 25, 36. 40).36 Doch wie viele weitere Zeugnisse der Liebe könnte
man aus der Geschichte der Kirche noch anführen! Einen besonderen Ausdruck findet
sie in dem beachtlichen Dienst praktizierter Nächstenliebe, den die gesamte monastische
Bewegung von ihren Anfängen mit dem hl. Abt Antonius († 356) an verwirklicht. In der
Begegnung ,,von Angesicht zu Angesicht’’ mit dem Gott, der die Liebe ist, spürt der
Mönch den dringenden Anspruch, sein ganzes Leben in Dienst zu verwandeln — in Dienst
an Gott und Dienst am Nächsten. So sind die großen Hospize, Kranken- und Armenhäuser
zu erklären, die neben den Klöstern entstanden sind. Und so erklären sich auch die
großen Initiativen für den menschlichen Fortschritt und die christliche Erziehung,
die vor allem den Ärmsten zugedacht sind; ihrer haben sich zuerst die monastischen
Orden und die Bettelorden angenommen und dann, die ganze Geschichte der Kirche hindurch,
die verschiedenen männlichen und weiblichen Ordensinstitute. Heiligengestalten wie
Franz von Assisi, Ignatius von Loyola, Johannes von Gott, Kamillus von Lellis, Vinzenz
von Paul, Louise de Marillac, Giuseppe B. Cottolengo, Johannes Bosco, Luigi Orione
und Theresa von Kalkutta — um nur einige zu nennen — sind berühmte Vorbilder sozialer
Liebestätigkeit für alle Menschen guten Willens. Die Heiligen sind die wahren Lichtträger
der Geschichte, weil sie Menschen des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe sind.
41.
Herausragend unter den Heiligen ist Maria, die Mutter des Herrn, Spiegel aller Heiligkeit.
Im Lukasevangelium sehen wir sie in einem Liebesdienst an ihrer Kusine Elisabeth,
bei der sie ,,etwa drei Monate’’ bleibt (1, 56), um ihr in der Endphase ihrer Schwangerschaft
beizustehen. ,,Magnificat anima mea Dominum’’, sagt sie bei diesem Besuch —
,,Meine Seele macht den Herrn groß’’ — (Lk 1, 46) und drückt damit das ganze
Programm ihres Lebens aus: nicht sich in den Mittelpunkt stellen, sondern Raum schaffen
für Gott, dem sie sowohl im Gebet als auch im Dienst am Nächsten begegnet — nur dann
wird die Welt gut. Maria ist groß eben deshalb, weil sie nicht sich, sondern Gott
groß machen will. Sie ist demütig: Sie will nichts anderes sein als Dienerin des Herrn
(vgl. Lk 1, 38. 48). Sie weiß, daß sie nur dadurch zum Heil der Welt beiträgt,
daß sie nicht ihr eigenes Werk vollbringen will, sondern sich dem Wirken Gottes ganz
zur Verfügung stellt. Sie ist eine Hoffende: Nur weil sie den Verheißungen Gottes
glaubt und auf das Heil Israels wartet, kann der Engel zu ihr kommen und sie für den
entscheidenden Dienst an diesen Verheißungen berufen. Sie ist eine Glaubende: ,,Selig
bist du, weil du geglaubt hast’’, sagt Elisabeth zu ihr (vgl. Lk 1, 45). Das
Magnifikat — gleichsam ein Porträt ihrer Seele — ist ganz gewoben aus Fäden
der Heiligen Schrift, aus den Fäden von Gottes Wort. So wird sichtbar, daß sie im
Wort Gottes wirklich zu Hause ist, darin aus- und eingeht. Sie redet und denkt mit
dem Wort Gottes; das Wort Gottes wird zu ihrem Wort, und ihr Wort kommt vom Wort Gottes
her. So ist auch sichtbar, daß ihre Gedanken Mitdenken mit Gottes Gedanken sind, daß
ihr Wollen Mitwollen mit dem Willen Gottes ist. Weil sie zuinnerst von Gottes Wort
durchdrungen war, konnte sie Mutter des fleischgewordenen Wortes werden. Endlich:
Maria ist eine Liebende. Wie könnte es anders sein? Als Glaubende und im Glauben mit
Gottes Gedanken denkend, mit Gottes Willen wollend kann sie nur eine Liebende sein.
Wir ahnen es an den leisen Gebärden, von denen uns die Kindheitsgeschichten aus dem
Evangelium erzählen. Wir sehen es in der Dis- kretion, mit der sie in Kana die Not
der Brautleute wahrnimmt und zu Jesus trägt. Wir sehen es in der Demut, mit der sie
die Zurückstellung in der Zeit des öffentlichen Lebens annimmt — wissend, daß der
Sohn nun eine neue Familie gründen muß und daß die Stunde der Mutter erst wieder sein
wird im Augenblick des Kreuzes, der ja die wahre Stunde Jesu ist (vgl. Joh
2, 4; 13, 1). Dann, wenn die Jünger geflohen sind, wird sie es sein, die unter dem
Kreuz steht (vgl. Joh 19, 25-27); und später, in der Stunde von Pfingsten,
werden die Jünger sich um sie scharen in der Erwartung des Heiligen Geistes (vgl.
Apg 1, 14).
42. Zum Leben der Heiligen gehört nicht bloß ihre irdische
Biographie, sondern ihr Leben und Wirken von Gott her nach ihrem Tod. In den Heiligen
wird es sichtbar: Wer zu Gott geht, geht nicht weg von den Menschen, sondern wird
ihnen erst wirklich nahe. Nirgends sehen wir das mehr als an Maria. Das Wort des Gekreuzigten
an den Jünger, an Johannes und durch ihn hindurch an alle Jünger Jesu: ,,Siehe da,
deine Mutter’’ (Joh 19, 27), wird durch alle Generationen hindurch immer neu
wahr. Maria ist in der Tat zur Mutter aller Glaubenden geworden. Zu ihrer mütterlichen
Güte wie zu ihrer jungfräulichen Reinheit und Schönheit kommen die Menschen aller
Zeiten und aller Erdteile in ihren Nöten und ihren Hoffnungen, in ihren Freuden und
Leiden, in ihren Einsamkeiten wie in der Gemeinschaft. Und immer erfahren sie das
Geschenk ihrer Güte, erfahren sie die unerschöpfliche Liebe, die sie aus dem Grund
ihres Herzens austeilt. Die Zeugnisse der Dankbarkeit, die ihr in allen Kontinenten
und Kulturen erbracht werden, sind die Anerkennung jener reinen Liebe, die nicht sich
selber sucht, sondern nur einfach das Gute will. Die Verehrung der Gläubigen zeigt
zugleich das untrügliche Gespür dafür, wie solche Liebe möglich wird: durch die innerste
Einung mit Gott, durch das Durchdrungensein von ihm, das denjenigen, der aus dem Brunnen
von Gottes Liebe getrunken hat, selbst zum Quell werden läßt, ,,von dem Ströme lebendigen
Wassers ausgehen’’ (vgl. Joh 7, 38). Maria, die Jungfrau, die Mutter, zeigt
uns, was Liebe ist und von wo sie ihren Ursprung, ihre immer erneuerte Kraft nimmt.
Ihr vertrauen wir die Kirche, ihre Sendung im Dienst der Liebe an:
Heilige
Maria, Mutter Gottes, du hast der Welt das wahre Licht geschenkt, Jesus,
deinen Sohn — Gottes Sohn. Du hast dich ganz dem Ruf Gottes überantwortet und
bist so zum Quell der Güte geworden, die aus ihm strömt. Zeige uns Jesus. Führe
uns zu ihm. Lehre uns ihn kennen und ihn lieben, damit auch wir selbst wahrhaft
Liebende und Quelle lebendigen Wassers werden können inmitten einer dürstenden
Welt.
Gegeben zu Rom, Sankt Peter, am 25. Dezember, dem Hochfest
der Geburt des Herrn, im Jahr 2005, dem ersten des Pontifikats.