2006-01-25 11:55:30

"Die Liebe ist möglich" - Kernsätze aus der Enzyklika


"Wir haben der Liebe geglaubt": So kann der Christ den Grundentscheid seines Lebens ausdrücken. Am Anfang des Christseins steht nicht ein ethischer Entschluß oder eine große Idee, sondern die Begegnung mit einem Ereignis, mit einer Person, die unserem Leben einen neuen Horizont und damit seine entscheidende Richtung gibt.

Die Liebe ist... nicht nur ein Gebot, sondern Antwort auf das Geschenk des Geliebtseins, mit dem Gott uns entgegengeht. In einer Welt, in der mit dem Namen Gottes bisweilen die Rache oder gar die Pflicht zu Haß und Gewalt verbunden sind, ist dies eine Botschaft von hoher Aktualität und von ganz praktischer Bedeutung.

Das Wort "Liebe" ist heute zu einem der meist gebrauchten und auch mißbrauchten Wörter geworden, mit dem wir völlig verschiedene Bedeutungen verbinden... Das Christentum - meinte Friedrich Nietzsche - habe dem "Eros" Gift zu trinken gegeben; er sei... zum Laster entartet. Damit drückte der deutsche Philosoph ein weit verbreitetes Empfinden aus: Vergällt uns die Kirche mit ihren Geboten und Verboten nicht das Schönste im Leben?

... Aber ist es wirklich so?... Der Mensch wird dann ganz er selbst, wenn Leib und Seele zu innerer Einheit finden; die Herausforderung durch den Eros ist dann bestanden, wenn diese Einung gelungen ist... Nur in der wirklichen Einswerdung von beidem wird der Mensch ganz er selbst. Nur so kann Liebe - Eros - zu ihrer wahren Größe reifen... Die Verherrlichung des Leibes, die wir heute erleben, ist trügerisch. Der zum "Sex" degradierte Eros wird zur Ware, zur bloßen "Sache"; man kann ihn kaufen und verkaufen, ja, der Mensch selbst wird dabei zur Ware. In Wirklichkeit ist dies gerade nicht das große Ja des Menschen zu seinem Leib. Im Gegenteil... Demgegenüber hat der christliche Glaube immer den Menschen als das zweieinige Wesen angesehen, in dem Geist und Materie ineinandergreifen und beide gerade so einen neuen Adel erfahren. Ja, Eros will uns zum Göttlichen hinreißen, ... aber gerade darum verlangt er einen Weg des Aufstiegs, der Verzichte, der Reinigungen und Heilungen.

Liebe wird nun Sorge um den anderen und für den anderen. Sie will nicht mehr sich selbst..., sie will das Gute für den Geliebten... Zu den Aufstiegen der Liebe und ihren inneren Reinigungen gehört es, daß Liebe nun Endgültigkeit will... Liebe zielt auf Ewigkeit. Ja, Liebe ist "Ekstase", aber Ekstase nicht im Sinn des rauschhaften Augenblicks, sondern Ekstase als ständiger Weg aus dem in sich verschlossenen Ich zur Freigabe des Ich, zur Hingabe und so gerade zur Selbstfindung, ja, zur Findung Gottes.

In Wirklichkeit lassen sich Eros und Agape - aufsteigende und absteigende Liebe - niemals ganz voneinander trennen. Je mehr beide... in die rechte Einheit miteinander treten, desto mehr verwirklicht sich das wahre Wesen von Liebe überhaupt... Es ist dem Menschen unmöglich, einzig in der schenkenden, absteigenden Liebe zu leben. Er kann nicht immer nur geben, er muß auch empfangen. Wer Liebe schenken will, muß selbst mit ihr beschenkt werden.
Im letzten ist "Liebe" eine einzige Wirklichkeit, aber sie hat verschiedene Dimensionen - es kann jeweils die eine oder andere Seite stärker hervortreten. Wo die beiden Seiten aber ganz auseinanderfallen, entsteht eine Karikatur oder jedenfalls eine Kümmerform von Liebe. Wir haben gesehen, daß der biblische Glaube nicht eine Nebenwelt oder Gegenwelt gegenüber dem menschlichen Urphänomen Liebe aufbaut, sondern den ganzen Menschen annimmt... Dieses Neue des biblischen Glaubens zeigt sich vor allem in zwei Punkten...: im Gottesbild und im Menschenbild.

Da ist zunächst das neue Gottesbild... Gott liebt den Menschen... Die Propheten Hosea und Ezechiel haben diese Leidenschaft Gottes für sein Volk mit kühnen erotischen Bildern beschrieben. Die Liebesgeschichte Gottes mit Israel besteht im tiefsten darin, daß er ihm die Thora gibt, das heißt, ihm die Augen auftut für das wahre Wesen des Menschen und ihm den Weg des rechten Menschseins zeigt; diese Geschichte besteht darin, daß der Mensch so in der Treue zu dem einen Gott lebend sich als Geliebten Gottes erfährt.
Der Eros Gottes für den Menschen ist ... zugleich ganz und gar Agape. Nicht nur weil er ganz frei und ohne vorgängiges Verdienst geschenkt wird, sondern auch weil er verzeihende Liebe ist... Die leidenschaftliche Liebe Gottes zu seinem Volk — zum Menschen — ... ist so groß, daß sie Gott gegen sich selbst wendet, seine Liebe gegen seine Gerechtigkeit. ... Gott liebt den Menschen so, daß er selbst Mensch wird, ihm nachgeht bis in den Tod hinein und auf diese Weise Gerechtigkeit und Liebe versöhnt. Gott..., dieser schöpferische Ursprung aller Dinge ... ist zugleich ein Liebender mit der ganzen Leidenschaft wirklicher Liebe. Damit ist der Eros aufs Höchste geadelt, aber zugleich so gereinigt, daß er mit der Agape verschmilzt.

Die erste Neuheit des biblischen Glaubens liegt, wie wir sahen, im Gottesbild; die zweite, damit von innen zusammenhängende, finden wir im Menschenbild... Der Eros ist gleichsam wesensmäßig im Menschen selbst verankert; ... (er) verweist von der Schöpfung her den Menschen auf die Ehe, auf eine Bindung, zu der Einzigkeit und Endgültigkeit gehören... Die auf einer ausschließlichen und endgültigen Liebe beruhende Ehe wird zur Darstellung des Verhältnisses Gottes zu seinem Volk und umgekehrt...
In seinem (Jesu) Tod am Kreuz vollzieht sich jene Wende Gottes gegen sich selbst, in der er sich verschenkt, um den Menschen wieder aufzuheben und zu retten — Liebe in ihrer radikalsten Form. Der Blick auf die durchbohrte Seite Jesu, von dem Johannes spricht (vgl. 19, 37), begreift, was Ausgangspunkt dieses Schreibens war: ,,Gott ist Liebe’’ (1 Joh 4, 8). Dort kann diese Wahrheit angeschaut werden... Von diesem Blick her findet der Christ den Weg seines Lebens und Liebens.
Die Kommunion zieht mich aus mir heraus zu ihm hin und damit zugleich in die Einheit mit allen Christen. Wir werden ,,ein Leib’’, eine ineinander verschmolzene Existenz. Gottesliebe und Nächstenliebe sind nun wirklich vereint... Von da versteht es sich, daß Agape nun auch eine Bezeichnung der Eucharistie wird: In ihr kommt die Agape Gottes leibhaft zu uns, um in uns und durch uns weiterzuwirken.
Jeder, der mich braucht und dem ich helfen kann, ist mein Nächster. Der Begriff ,,Nächster’’ wird universalisiert und bleibt doch konkret. Er wird trotz der Ausweitung auf alle Menschen nicht zum Ausdruck einer unverbindlichen Fernstenliebe, sondern verlangt meinen praktischen Einsatz hier und jetzt.
Gottes- und Nächstenliebe. Beide gehören so zusammen, daß die Behauptung der Gottesliebe zur Lüge wird, wenn der Mensch sich dem Nächsten verschließt oder gar ihn haßt.
Niemand hat Gott gesehen, so wie er in sich ist. Und trotzdem ist Gott uns nicht gänzlich unsichtbar, nicht einfach unzugänglich geblieben... Immer neu geht er auf uns zu — durch Menschen..., durch sein Wort, in den Sakramenten... Er hat uns zuerst geliebt und liebt uns zuerst; deswegen können auch wir mit Liebe antworten.
Gefühle kommen und gehen. Das Gefühl kann eine großartige Initialzündung sein, aber das Ganze der Liebe ist es nicht... Zur Reife der Liebe gehört es, daß sie alle Kräfte des Menschseins einbezieht, den Menschen sozusagen in seiner Ganzheit integriert... Die Erkenntnis des lebendigen Gottes ist Weg zur Liebe.
(Nächstenliebe) besteht ... darin, daß ich auch den Mitmenschen, den ich zunächst gar nicht mag oder nicht einmal kenne, von Gott her liebe. Das ist nur möglich aus der inneren Begegnung mit Gott heraus, die ... bis ins Gefühl hineinreicht. Dann lerne ich, diesen anderen nicht mehr bloß mit meinen Augen und Gefühlen anzusehen, sondern aus der Perspektive Jesu Christi heraus... Ich sehe durch das Äußere hindurch sein inneres Warten auf einen Gestus der Liebe.
Wenn ich ... die Zuwendung zum Nächsten aus meinem Leben ganz weglasse und nur ,,fromm’’ sein möchte, nur meine ,,religiösen Pflichten’’ tun, dann verdorrt auch die Gottesbeziehung. Dann ist sie nur noch ,,korrekt’’, aber ohne Liebe. Nur meine Bereitschaft, auf den Nächsten zuzugehen, ihm Liebe zu erweisen, macht mich auch fühlsam Gott gegenüber... Die Heiligen — denken wir zum Beispiel an die sel. Theresa von Kalkutta — haben ihre Liebesfähigkeit dem Nächsten gegenüber immer neu aus ihrer Begegnung mit dem eucharistischen Herrn geschöpft, und umgekehrt hat diese Begegnung ihren Realismus und ihre Tiefe eben von ihrem Dienst an den Nächsten her gewonnen. Gottes- und Nächstenliebe sind untrennbar... Liebe wächst durch Liebe. Sie ist ,,göttlich’’, weil sie von Gott kommt und uns mit Gott eint.

Die Kirche kann den Liebesdienst so wenig ausfallen lassen wie Sakrament und Wort... Der Liebesdienst ist für die Kirche nicht eine Art Wohlfahrtsaktivität, die man auch anderen überlassen könnte, sondern er gehört zu ihrem Wesen.
Die Kirche ist Gottes Familie in der Welt. In dieser Familie darf es keine Notleidenden geben. Zugleich aber überschreitet Caritas-Agape die Grenzen der Kirche: Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter bleibt Maßstab, gebietet die Universalität der Liebe.

Die Armen, heißt es, bräuchten nicht Liebeswerke, sondern Gerechtigkeit. Die Liebeswerke — die Almosen — seien in Wirklichkeit die Art und Weise, wie die Besitzenden sich an der Herstellung der Gerechtigkeit vorbeidrückten, ihr Gewissen beruhigten... Richtig ist, daß das Grundprinzip des Staates die Verfolgung der Gerechtigkeit sein muß... Der Marxismus hatte die Weltrevolution und deren Vorbereitung als das Allheilmittel für die soziale Problematik vorgestellt... Dieser Traum ist zerronnen. In der schwierigen Situation, in der wir heute gerade auch durch die Globalisierung der Wirtschaft stehen, ist die Soziallehre der Kirche zu einer grundlegenden Wegweisung geworden, die weit über die Kirche hinaus Orientierungen bietet... Die Soziallehre der Kirche argumentiert von der Vernunft und vom Naturrecht her, das heißt von dem aus, was allen Menschen wesensgemäß ist. Und sie weiß, daß es nicht Auftrag der Kirche ist, selbst diese Lehre politisch durchzusetzen... Das Erbauen einer gerechten Gesellschafts- und Staatsordnung, durch die jedem das Seine wird, ist eine grundlegende Aufgabe, der sich jede Generation neu stellen muß. Da es sich um eine politische Aufgabe handelt, kann dies nicht der unmittelbare Auftrag der Kirche sein.... Aber sie kann und darf im Ringen um Gerechtigkeit auch nicht abseits bleiben.
Liebe — Caritas — wird immer nötig sein, auch in der gerechtesten Gesellschaft. Es gibt keine gerechte Staatsordnung, die den Dienst der Liebe überflüssig machen könnte. Wer die Liebe abschaffen will, ist dabei, den Menschen als Menschen abzuschaffen... Nicht den alles regelnden und beherrschenden Staat brauchen wir, sondern den Staat, der ... großzügig die Initiativen anerkennt und unterstützt, die aus den verschiedenen gesellschaftlichen Kräften aufsteigen und Spontaneität mit Nähe zu den hilfsbedürftigen Menschen verbinden. Die Kirche ist eine solche lebendige Kraft... Die Behauptung, gerechte Strukturen würden die Liebestätigkeit überflüssig machen, verbirgt tatsächlich ein materialistisches Menschenbild: den Aberglauben, der Mensch lebe ,,nur von Brot’’ (Mt 4, 4; vgl. Dtn 8, 3) — eine Überzeugung, die den Menschen erniedrigt...
Was nun den Dienst der Menschen an den Leidenden betrifft, so ist zunächst berufliche Kompetenz nötig, ... aber sie allein genügt nicht. Es geht ja um Menschen, und Menschen brauchen immer mehr als eine bloß technisch richtige Behandlung. Sie brauchen Menschlichkeit.
Außerdem darf praktizierte Nächstenliebe nicht Mittel für das sein, was man heute als Proselytismus bezeichnet. Die Liebe ist umsonst; sie wird nicht getan, um damit andere Ziele zu erreichen... Der Christ weiß, wann es Zeit ist, von Gott zu reden, und wann es recht ist, von ihm zu schweigen und nur einfach die Liebe reden zu lassen.
Was die Mitarbeiter betrifft, die praktisch das Werk der Nächstenliebe in der Kirche tun...: Sie dürfen sich nicht nach den Ideologien der Weltverbesserung richten, sondern müssen sich von dem Glauben führen lassen, der in der Liebe wirksam wird... Er wird in Demut das tun, was ihm möglich ist und in Demut das andere dem Herrn überlassen. Gott regiert die Welt, nicht wir... Die Erfahrung der Endlosigkeit der Not kann uns einerseits in die Ideologie treiben, die vorgibt, nun das zu tun, was Gottes Weltregierung allem Anschein nach nicht ausrichtet — die universale Lösung des Ganzen. Sie kann andererseits Versuchung zur Trägheit werden, weil es scheint, da wäre ja doch nichts zu erreichen. In dieser Situation ist der lebendige Kontakt mit Christus die entscheidende Hilfe, um auf dem rechten Weg zu bleiben: weder in menschenverachtenden Hochmut zu verfallen, der nicht wirklich aufbaut, sondern vielmehr zerstört, noch sich der Resignation anheimzugeben...

Die Frömmigkeit schwächt nicht den Kampf gegen die Armut oder sogar das Elend des Nächsten. Die selige Theresa von Kalkutta ist ein sehr offenkundiges Beispiel dafür... Es ist Zeit, angesichts des Aktivismus und des drohenden Säkularismus vieler in der karitativen Arbeit beschäftigter Christen die Bedeutung des Gebetes erneut zu bekräftigen.
Die Liebe ist möglich, und wir können sie tun, weil wir nach Gottes Bild geschaffen sind.

(rv 25.01.06 sk; Hervorhebungen durch die Redaktion)







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