Papst Benedikt XVI. hat davor gewarnt, das Zweite Vatikanische Konzil falsch oder
tendenziös zu deuten. In einer Ansprache an die römische Kurie würdigte er auch seinen
verstorbenen Vorgänger Johannes Paul. Vor allem vom "Lehrstuhl des Leidens aus" habe
der polnische Papst in seinen letzten Lebensjahren der Kirche und der Welt ein wichtiges
Zeichen gegeben. Anders als Johannes Paul nutzte Benedikt die traditionelle Weihnachtsansprache
an die Kurie nicht dazu, einen Überblick über die Lage der Kirche in verschiedenen
Teilen der Welt zu geben. Hier sind die wichtigsten Sätze aus der großen Rede des
Papstes von heute: "Wir haben dieses Jahr große Ereignisse erlebt. Ich denke vor
allem an den Tod unseres geliebten Heiligen Vaters Johannes Paul. Kein Papst hat uns
so viele Texte hinterlassen wie er; keiner hat sowie er die ganze Welt besuchen und
direkt mit Menschen in allen Kontinenten sprechen können. Aber am Schluß hat er einen
Weg des Leidens und des Schweigens angetreten. Es bleibt uns unvergeßlich, wie er
am letzten Palmsonntag mit einem Palmzweig in der Hand am Fenster stand und, von Schmerz
gezeichnet, seinen Segen gab. Er hat uns in Wort und Werk Großes gegeben; aber er
hat uns vom Lehrstuhl des Leidens und des Schweigens aus auch eine wichtige Lektion
erteilt. Einer der wichtigsten Punkte seines Denkens war der, dass es eine Barriere
gegen das Böse gibt, nämlich die göttliche Barmherzigkeit. Jesu Leiden am Kreuzen
hat die Macht des Bösen definitiv gebrochen - das ist nicht einfach nur eine theologische
Lehre, sondern Ausdruck eines gelebten Glaubens, gereift im Leiden. Die weltweite
Reaktion auf den Tod des Papstes war ein bewegendes Zeichen der Dankbarkeit dafür,
dass er sich völlig Gott für die Welt hingegeben hatte; dafür, dass er in einer Welt
voll Haß und Gewalt gezeigt hat, wie man für die anderen liebt und leidet. Der
Weltjugendtag von Köln war ein großes Geschenk. Über eine Million junger Leute hat
am Rhein das Wort Gottes gehört, gebetet, gebeichtet und die Eucharistie gefeiert,
aber auch zusammen gesungen und gefeiert. In all diesen Tagen herrschte einfach die
Freude. Für die Polizei gab es fast nichts zu tun - der Herr hatte seine Familie zusammengerufen.
Allen, die dabeiwaren, bleibt das Schweigen dieser Million junger Leute in Erinnerung
im Moment, als der Herr im Sakrament auf dem Altar über ihnen thronte. Behalten wir
die Bilder von Köln in unserem Herzen: Sie sind ein Zeichen, das weiterwirkt. Ein
anderes großes Ereignis dieses Jahr war die Bischofssynode zur Eucharistie. Sie zeigte,
dass es tatsächlich noch Neues zur Eucharistie zu sagen gibt, dass das Ganze der Lehre
noch weiter ausgeführt werden kann. In den Beiträgen der Synodenväter spiegelte sich
der Reichtum des eucharistischen Lebens in der Kirche von heute. Das post-synodale
Dokument entsteht jetzt in enger Bindung an die Vorschläge, die "propositiones", der
Synode. Es ist für mich bewegend, zu sehen, wie überall in der Kirche die Freude an
der eucharistischen Anbetung wiedererwacht und ihre Früchte zeigt. In der Zeit der
Liturgiereform wurden die Messe und die Anbetung oft als zwei Gegensätze aufgefasst
- in der Gebetserfahrung der Kirche hat sich jetzt gezeigt, dass ein solcher Gegensatz
keinen Sinn hat. Die Eucharistie empfangen, bedeutet, den anzubeten, den wir empfangen.
Nur so werden wir eins mit ihm. Ich will auch noch an die Feier erinnern zum Abschluß
des Konzils vor vierzig Jahren. Das führt zur Frage: Was war denn das Ergebnis des
Konzils? Wurde es richtig rezipiert? Was war bei dieser Rezeption gut, was ungenügend
oder falsch? Und was bleibt noch zu tun? Niemand kann leugnen, dass in großen
Teilen der Kirche die Umsetzung des Konzils eher schwierig verlaufen ist. Warum? Naja,
es hängt alles von der richtigen Interpretation des Konzils ab oder - wie wir heute
sagen würden - von seiner richtigen Hermeneutik. Die Probleme der Rezeption des Konzils
rühren daher, dass zwei verschiedene Hermeneutiken im Widerstreit miteinander lagen.
Die eine führte zu Verwirrung, die andere brachte - im Stillen, aber immer sichtbarer
- ihre Früchte. Die eine Interpretation sieht das Konzil als Diskontinuität und Bruch
- sie konnte sich die Sympathie der Massenmedien und eines Teils der modernen Theologie
sichern, setzt aber die Texte des Konzils und einen angeblichen "Geist" des Konzils
in Gegensatz zu einander und riskiert, zu einem Bruch zwischen vor- und nachkonziliarer
Kirche zu führen. Die andere ist die Hermeneutik der Reform, der Erneuerung in der
Kontinuität der Kirche, so wie Johannes XXIII. und Paul VI. sie wollten. Das Konzil
hatte mit Blick auf die Welt drei große Themenkreise zu beantworten: Es galt, die
Beziehung zwischen Glauben und modernen Wissenschaften neu zu definieren; es galt,
die Beziehungen der Kirche zum modernen Staat zu definieren; und es gab die Problematik
der religiösen Toleranz. Vor allem galt es, nach den Nazi-Verbrechen und mit Blick
auf eine lange, schwierige Geschichte die Beziehung zum Glauben Israels neu zu bewerten.
In all diesen Punkten, die letztlich zusammengehören, wollte das Konzil Neuerung in
Kontinuität. Die Kirche ist, vor wie nach dem Konzil, ein und dieselbe: die eine,
heilige, katholische und apostolische Kirche auf dem Weg durch die Zeit. Wenn wir
das Zweite Vatikanum mit der richtigen Hermeneutik lesen und rezipieren, kann es immer
mehr eine große Kraftquelle sein für die immer notwendige Erneuerung der Kirche. Zum
Schluß sollte ich vielleicht noch an den 19. April dieses Jahres erinnern, als die
Kardinäle mich zu meinem Schrecken zum Nachfolger Johannes Pauls II. wählten. Sowas
hätte ich mir nie als meine Berufung vorgestellt; ich konnte nur mit großem Gottvertrauen
"Ja" sagen. Ich danke allen, die mich mit soviel Vertrauen, Güte und Verständnis aufnehmen
und mich jeden Tag mit ihrem Gebet begleiten." (rv 22.12.05 sk)