2005-08-04 11:00:47

Vatikan: Berliner Nuntius der 30er Jahre war „kein Schwächling“


Cesare Orsenigo war päpstlicher Nuntius in Berlin - ab 1930 bis zum bitteren Ende 1945. Neue Forschungsergebnisse belegen, dass die Geschichtsschreibung den Mann bisher falsch einschätzte. Das ist umso delikater, als Orsenigo die Schlüsselfigur der Diplomatie zwischen Heiligem Stuhl und Nazi-Deutschland ist. Der Historiker Karl-Josef Hummel, Leiter der katholischen Kommission für Zeitgeschichte, forscht über Orsenigo in den nun freigegebenen Beständen des vatikanischen Geheimarchivs bis 1939.

„Orsenigo war bisher in der Forschung eher als schwächlicher Nuntius beschrieben, der wenig Scharfsinn im politischen Urteil hatte und vom Vatikan nur deshalb nicht abgelöst wurde, weil man befürchtete, man könne dann keinen neuen Nuntius nach Berlin schicken. Nun erweist sich aber, dass wir hier sehr scharf beobachtete politische Berichte finden, es gibt zum Beispiel keinen anderen Bericht unmittelbar nach der Reichspogromnacht, der so scharfsinnig die Probleme beschrieben hätte wie ein Nuntiaturbericht von Orsenigo.“

Der Norditaliener Cesare Orsenigo hatte im Frühjahr 1930 die Nachfolge Eugenio Pacellis als Apostolischer Nuntius in Berlin angetreten. Pacelli ging in den Vatikan und wurde Staatssekretär – und 1939 Papst Pius XII. Orsenigo, das zeigte sich bald, konnte in Berlin seinem Vorgänger nicht das Wasser reichen, denn Pacelli war ausgebildeter Diplomat – Orsenigo hingegen war Seelsorger. Die unübersichtliche Gemengelage rund um die Machtergreifung der Nationalsozialisten hätte auch einen erfahrenen Diplomaten auf eine harte Probe gestellt. Außerdem überwarf sich Orsenigo bald mit einigen deutschen Bischöfen. Untätigkeit kann man ihm aber nicht vorwerfen. In „heißen“ Phasen schrieb oder telegrafierte er jeden Tag mehrmals nach Rom. Hummel:

„Wir finden in seinen Nuntiaturberichten eine Fülle von Informationen verarbeitet, bis hin auf die Ebene von Pfarreien. Die Frage, die quellenkritisch zu stellen ist, ist inwieweit diese Berichte der tatsächlichen Situation entsprechen. Ein Bericht von 1933 über die Wahlen und die Beteiligung von Katholiken ist völlig verfehlt, das können wir inzwischen nachweisen, wir wissen aber, dass dieser verfehlte Bericht von Orsenigo in Rom für viele Jahre eine Leitlinie für Entscheidungen gewesen ist.“

Orsenigos Berichte dokumentieren fast Tag für Tag, in allen Phasen, das Ende der Weimarer Republik und die Geschichte der Nazi-Diktatur. Er meldet nicht nur Dinge an Rom, die den Vatikan unmittelbar betreffen, wie etwas Reichskonkordat, Kirchenkampf, Besetzung von Bischofsstühlen, sondern schreibt auch über die großen allgemeinpolitischen Fragen der Zeit wie Wirtschaftskrise, Antisemitismus, Etablierung der Diktatur und Hitlers Agieren im Ausland. Querdurch gilt aber: Orsenigo ist unsicher in seinen Einschätzungen. Treffende und unzutreffende Urteile, wahre und falsche Information wechseln einander ab. Dennoch wird seine bisher negative Einschätzung durch die Historiker den neuen Forschungsergebnissen nicht standhalten können, betont Hummel:

„Es kann sein, dass das Bild von Orsenigo etwas gedämpft wird durch die zeitgenössischen Quellen. Sie stammen von Leuten, die sich vorstellen hätten können, selbst Nuntius in Deutschland zu sein. Hier sind wir vielleicht einer Quellenproblematik aufgesessen. Um ein vollständiges Urteil zu bekommen, werden sämtliche Nuntiaturberichte von 1933 bis 1939 veröffentlicht.“

Aus den bisher zugänglichen Jahren 1930 bis 1939 liegen rund 1.500 Berichte des Nuntius vor. Dazu gibt es noch rund 500 weitere relevante Dokumente, vor allem die Briefe des Staatssekretärs Pacelli an Orsenigo. Bei der Veröffentlichung ziehen Vatikanisches Staatssekretariat, Kommission für Zeitgeschichte und Deutsches Historisches Institut (DHI) in Rom an einem Strang. Das DHI will die Dokumente online, also via Internet, zugänglich machen; eine erste Tranche ist in den kommenden Monaten zu erwarten.
(rv 04.08.05 gs)







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