Vatikan: Berliner Nuntius der 30er Jahre war „kein Schwächling“
Cesare Orsenigo war päpstlicher Nuntius in Berlin - ab 1930 bis zum bitteren Ende
1945. Neue Forschungsergebnisse belegen, dass die Geschichtsschreibung den Mann bisher
falsch einschätzte. Das ist umso delikater, als Orsenigo die Schlüsselfigur der Diplomatie
zwischen Heiligem Stuhl und Nazi-Deutschland ist. Der Historiker Karl-Josef Hummel,
Leiter der katholischen Kommission für Zeitgeschichte, forscht über Orsenigo in den
nun freigegebenen Beständen des vatikanischen Geheimarchivs bis 1939.
„Orsenigo
war bisher in der Forschung eher als schwächlicher Nuntius beschrieben, der wenig
Scharfsinn im politischen Urteil hatte und vom Vatikan nur deshalb nicht abgelöst
wurde, weil man befürchtete, man könne dann keinen neuen Nuntius nach Berlin schicken.
Nun erweist sich aber, dass wir hier sehr scharf beobachtete politische Berichte finden,
es gibt zum Beispiel keinen anderen Bericht unmittelbar nach der Reichspogromnacht,
der so scharfsinnig die Probleme beschrieben hätte wie ein Nuntiaturbericht von Orsenigo.“
Der
Norditaliener Cesare Orsenigo hatte im Frühjahr 1930 die Nachfolge Eugenio Pacellis
als Apostolischer Nuntius in Berlin angetreten. Pacelli ging in den Vatikan und wurde
Staatssekretär – und 1939 Papst Pius XII. Orsenigo, das zeigte sich bald, konnte in
Berlin seinem Vorgänger nicht das Wasser reichen, denn Pacelli war ausgebildeter Diplomat
– Orsenigo hingegen war Seelsorger. Die unübersichtliche Gemengelage rund um die Machtergreifung
der Nationalsozialisten hätte auch einen erfahrenen Diplomaten auf eine harte Probe
gestellt. Außerdem überwarf sich Orsenigo bald mit einigen deutschen Bischöfen. Untätigkeit
kann man ihm aber nicht vorwerfen. In „heißen“ Phasen schrieb oder telegrafierte er
jeden Tag mehrmals nach Rom. Hummel:
„Wir finden in seinen Nuntiaturberichten
eine Fülle von Informationen verarbeitet, bis hin auf die Ebene von Pfarreien. Die
Frage, die quellenkritisch zu stellen ist, ist inwieweit diese Berichte der tatsächlichen
Situation entsprechen. Ein Bericht von 1933 über die Wahlen und die Beteiligung von
Katholiken ist völlig verfehlt, das können wir inzwischen nachweisen, wir wissen aber,
dass dieser verfehlte Bericht von Orsenigo in Rom für viele Jahre eine Leitlinie für
Entscheidungen gewesen ist.“
Orsenigos Berichte dokumentieren fast Tag für
Tag, in allen Phasen, das Ende der Weimarer Republik und die Geschichte der Nazi-Diktatur.
Er meldet nicht nur Dinge an Rom, die den Vatikan unmittelbar betreffen, wie etwas
Reichskonkordat, Kirchenkampf, Besetzung von Bischofsstühlen, sondern schreibt auch
über die großen allgemeinpolitischen Fragen der Zeit wie Wirtschaftskrise, Antisemitismus,
Etablierung der Diktatur und Hitlers Agieren im Ausland. Querdurch gilt aber: Orsenigo
ist unsicher in seinen Einschätzungen. Treffende und unzutreffende Urteile, wahre
und falsche Information wechseln einander ab. Dennoch wird seine bisher negative Einschätzung
durch die Historiker den neuen Forschungsergebnissen nicht standhalten können, betont
Hummel:
„Es kann sein, dass das Bild von Orsenigo etwas gedämpft wird durch
die zeitgenössischen Quellen. Sie stammen von Leuten, die sich vorstellen hätten können,
selbst Nuntius in Deutschland zu sein. Hier sind wir vielleicht einer Quellenproblematik
aufgesessen. Um ein vollständiges Urteil zu bekommen, werden sämtliche Nuntiaturberichte
von 1933 bis 1939 veröffentlicht.“
Aus den bisher zugänglichen Jahren 1930
bis 1939 liegen rund 1.500 Berichte des Nuntius vor. Dazu gibt es noch rund 500 weitere
relevante Dokumente, vor allem die Briefe des Staatssekretärs Pacelli an Orsenigo.
Bei der Veröffentlichung ziehen Vatikanisches Staatssekretariat, Kommission für Zeitgeschichte
und Deutsches Historisches Institut (DHI) in Rom an einem Strang. Das DHI will die
Dokumente online, also via Internet, zugänglich machen; eine erste Tranche ist in
den kommenden Monaten zu erwarten. (rv 04.08.05 gs)