Polen: Lustiger, Juden sind Träger des moralischen Gesetzes
Delegationen aus 40 Staaten, Überlebende und drei Dutzend Staatsoberhäupter und Regierungschefs
waren beim Gedenktag zum 60. Jahrestag der Befreiung Auschwitz anwesend. Als Stellvertreter
von Papsts Johannes Paul II. nahm der Pariser Kardinal Jean-Marie Lustiger an der
Zeremonie teil. Ist der Massenmord am jüdischen Volks aus der Distanz von 60 Jahren
in irgendeiner Weise leichter zu erklären? Hier eine Stellungnahme, um die wir den
Kardinal vor seiner Abreise nach Auschwitz baten.
"Ich denke, und das ist
meine innerste Überzeugung, dass das jüdische Volk fortfährt, dieses grundlegende
moralische Gesetz weiterzutragen, das es von der Überbringung der Zehn Gebote empfangen
hatte, die heute in säkulärer und laizistischer Form die Basis der Menschenrechte
bilden. Zudem ist das jüdische Volk Träger einer Transzendenz, die der westliche Atheismus
ablehnen und leugnen kann, doch die menschliche Person trägt ihre Spuren. Dostojewski
lässt einen seiner Helden sagen: „Wenn Gott nicht existiert, können wir alles tun.“
Von diesem Standpunkt aus ist das ein prophetisches Wort. Es ging darum, den Zeugen
zu töten, damit das Gesetz der Nazis ein Gesetz göttlichen Anspruchs sein konnte.
„Gott mit uns“ – doch Gott sind WIR. Den Überbringer der Botschaft töten, um die Botschaft
zu unterschlagen. Ob die Menschen jüdischen Glaubens das wollten oder nicht: DAS war
es, was sie darstellten. Die Nazis wählten nicht aus, sie wollten alle töten. Die
Juden wurden nicht aufgrund persönlicher Verantwortung ermordet, sondern aufgrund
dessen, was sie darstellten. (rv 28.1.05 gs)