2004-11-19 15:36:04

Dossier: Vortrag von Kardinal Ratzinger über Europa - seine geistigen Grundlagen gestern, heute, morgen


Europa. Seine geistigen Grundlagen gestern, heute, morgen.

Joseph Cardinal Ratzinger


Europa - was ist das eigentlich? Diese Frage wurde in einem der Sprachzirkel der römischen Bischofssynode über Europa von Kardinal Glemp immer wieder nachdrücklich gestellt: Wo beginnt, wo endet Europa? Warum gehört zum Beispiel Sibirien nicht zu Europa, obwohl es doch weitgehend von Europäern bewohnt wird, die auch auf durchaus europäische Weise denken und leben? Und wo verliert sich Europa im Süden der russischen Staatengemeinschaft? Wo läuft im Atlantik seine Grenze? Welche Inseln sind Europa, welche nicht und warum nicht? In diesen Gesprächen wurde völlig klar, daß "Europa" nur ganz sekundär ein geographischer Begriff ist: Europa ist kein geographisch deutlich faßbarer Kontinent, sondern ein kultureller und historischer Begriff.

Die Entstehung Europas

Das zeigt sich ganz evident, wenn wir auf die Ursprünge Europas zurückzugehen versuchen. Wer vom Ursprung Europas redet, verweist gewöhnlich auf Herodot (ca. 484-425 vor Christus), der wohl als erster Europa als geographischen Begriff kennt und es so definiert: "Die Perser sehen Asien mit seinen Völkern als ihr Land an. Europa und das Land der Griechen, meinen sie, liegt vollkommen außerhalb ihrer Grenzen." Die Grenzen Europas selbst werden nicht angegeben, aber es ist klar, daß Kernlande des heutigen Europa völlig außerhalb des Blickfelds des antiken Historikers lagen. In der Tat hatte sich mit der Ausbildung der hellenistischen Staaten und des Römischen Reiches ein "Kontinent" gebildet, der zur Grundlage des späteren Europa wurde, aber ganz andere Grenzen aufwies: Es waren die Länder rund um das Mittelmeer, die durch ihre kulturelle Verbundenheit, durch Verkehr und Handel, durch ein gemeinsames politisches System miteinander einen wirklichen "Kontinent" bildeten. Erst der Siegeszug des Islam hat im 7. und im beginnenden 8. Jahrhundert eine Grenze durch das Mittelmeer gezogen, es sozusagen in der Mitte durchgeschnitten, so daß, was bisher ein Kontinent gewesen war, sich nunmehr in drei Kontinente teilte: Asien, Afrika, Europa. Im Osten vollzog sich die Umbildung der alten Welt langsamer als im Westen: Das Römische Reich mit Konstantinopel als Mittelpunkt hielt dort - wenn auch immer weiter zurückgedrängt - bis ins 15. Jahrhundert hinein stand. Während die Südseite des Mittelmeers um das Jahr 700 endgültig aus dem bisherigen Kulturkontinent herausgefallen ist, vollzieht sich zur selben Zeit eine immer stärkere Ausdehnung nach Norden. Der Limes, der bisher eine kontinentale Grenze gewesen war, verschwindet und öffnet sich in einen neuen Geschichtsraum hinein, der nun Gallien, Germanien, Britannien als eigentliche Kernlande umgreift und sich zusehends nach Skandinavien ausstreckt. In diesem Prozeß der Verschiebung der Grenzen wurde die ideelle Kontinuität mit dem vorangehenden, geographisch anders bemessenen mittelmeerischen Kontinent durch eine geschichtstheologische Konstruktion gewahrt: Im Anschluß an das Buch Daniel sah man das durch den christlichen Glauben erneuerte und verwandelte Römische Reich als das letzte und bleibende Reich der Weltgeschichte überhaupt an und definierte daher das sich konstituierende Völker- und Staatengebilde als das bleibende Sacrum Imperium Romanum. Dieser Prozeß einer neuen geschichtlichen und kulturellen Identifizierung ist unter Karl dem Großen ganz bewußt vollzogen worden, und hier taucht nun auch wieder das alte Wort Europa in verwandelter Bedeutung auf: Diese Vokabel wurde nun geradezu als Bezeichnung für das Reich Karl's des Großen gebraucht und drückte zugleich das Bewußtsein der Kontinuität und der Neuheit aus, mit dem sich das neue Staatengefüge als die eigentlich zukunftstragende Kraft auswies - zukunftstragend, gerade weil es sich in der Kontinuität der bisherigen Geschichte und letztlich im Immerwährenden verankert begriff. In dem so sich bildenden Selbstverständnis ist ebenso das Bewußtsein der Endgültigkeit wie das Bewußtsein einer Sendung ausgedrückt. Der Begriff Europa ist zwar nach dem Ende des Karolingischen Reiches wieder weitgehend verschwunden und nur in der Gelehrtensprache erhalten geblieben; in die Populärsprache geht er erst zu Beginn der Neuzeit - wohl im Zusammenhang mit der Türkengefahr als Weise der Selbstidentifizierung - über, um sich allgemein im 18. Jahrhundert durchzusetzen. Unabhängig von dieser Wortgeschichte bedeutet die Konstituierung des Frankenreiches als des nie untergegangenen und nun neu geborenen Römischen Reiches in der Tat den entscheidenden Schritt auf das zu, was wir heute meinen, wenn wir von Europa sprechen.

Freilich dürfen wir nicht vergessen, daß es auch noch eine zweite Wurzel Europas, eines nicht westlichen, nicht abendländischen Europa gibt: Das Römische Reich hatte ja, wie schon gesagt, in Byzanz über die Stürme der Völkerwanderung und der Islamischen Invasion hin standgehalten. Byzanz verstand sich als das wirkliche Rom; hier war das Reich in der Tat nicht untergegangen, weshalb man auch weiterhin Anspruch auf die westliche Reichshälfte erhob. Auch dieses östliche Römische Reich hat sich weit nach Norden, in die slawische Welt hinein ausgedehnt und eine eigene, griechisch-römische Welt geschaffen, die sich von dem lateinischen Europa des Westens durch die andere Liturgie, die andere Kirchenverfassung, durch die andere Schrift und durch den Verzicht auf das Latein als gemeinsame Bildungssprache unterscheidet. Freilich gibt es auch genug verbindende Elemente, die die zwei Welten doch zu einem gemeinsamen Kontinent machen können: An erster Stelle das gemeinsame Erbe der Bibel und der alten Kirche, das übrigens in beiden Welten über sich hinausweist auf einen Ursprung, der nun außerhalb Europas, in Palästina liegt; dazu die gemeinsame Reichsidee, das gemeinsame Grundverständnis der Kirche und damit auch die Gemeinsamkeit grundlegender Rechtsvorstellungen und rechtlicher Instrumente; schließlich würde ich auch das Mönchtum erwähnen, das in den großen Erschütterungen der Geschichte der wesentliche Träger nicht nur der kulturellen Kontinuität, sondern vor allem der grundlegenden religiösen und sittlichen Werte, der letzten Orientierungen des Menschen geblieben ist und als vorpolitische und überpolitische Kraft zum Träger der immer wieder nötigen Wiedergeburten wurde.

Zwischen den beiden Europen gibt es mitten in der Gemeinsamkeit des wesentlichen kirchlichen Erbes allerdings doch noch einen tiefreichenden Unterschied, auf dessen Bedeutung besonders Endre von Ivanka hingewiesen hat: In Byzanz erscheinen Reich und Kirche nahezu miteinander identifiziert; der Kaiser ist das Haupt auch der Kirche. Er versteht sich als Stellvertreter Christi, und im Anschluß an die Gestalt des Melchisedek, der König und Priester zugleich war (Gen 14,18), führt er seit dem 6. Jahrhundert den offiziellen Titel "König und Priester". Dadurch daß das Kaisertum seit Konstantin aus Rom abgewandert war, konnte sich in der alten Reichshauptstadt die selbständige Stellung des römischen Bischofs als Nachfolger Petri und Oberhaupt der Kirche entwickeln; hier wird schon seit Beginn der konstantinischen Ära eine Dualität der Gewalten gelehrt: Kaiser und Papst haben je getrennte Vollmachten, keiner verfügt über das Ganze. Papst Gelasius I. (492-496) hat die Sicht des Westens in seinem berühmten Brief an Kaiser Anastasius und noch deutlicher in seinem vierten Traktat formuliert, wo er der byzantinischen Melchisedek-Typologie gegenüber betont, daß die Einheit der Gewalten ausschließlich in Christus liege. "Dieser selbst hat nämlich wegen der menschlichen Schwäche (superbia!) für spätere Zeiten die beiden Ämter getrennt, damit sich niemand überhebe (c. 11)." Für die Dinge des ewigen Lebens bedürfen die christlichen Kaiser der Priester (pontifices), und diese wiederum halten sich für den zeitlichen Lauf der Dinge an die kaiserlichen Verfügungen. Die Priester müssen in weltlichen Dingen den Gesetzen des durch göttliche Ordnung eingesetzten Kaisers folgen, während dieser sich in göttlichen Dingen dem Priester zu unterwerfen habe. Damit ist eine Gewaltentrennung und -unterscheidung eingeführt, die für die folgende Entwicklung Europas von höchster Bedeutung wurde und sozusagen das eigentlich Abendländische grundgelegt hat. Weil auf beiden Seiten entgegen solchen Abgrenzungen immer der Totalitätsdrang, das Verlangen nach der Überordnung der eigenen Macht über die andere lebendig blieb, ist dieses Trennungsprinzip auch zum Quell unendlicher Leiden geworden. Wie es recht zu leben und politisch wie religiös zu gestalten ist, bleibt ein grundlegendes Problem auch für das Europa von heute und von morgen.

Der Umbruch in die Neuzeit hinein

Wenn wir nach dem bisher Gesagten die Entstehung des Karolingischen Reiches einerseits, das Fortbestehen des Römischen Reiches in Byzanz und seine Slawenmission andererseits als die eigentliche Geburt des "Kontinents" Europa ansehen dürfen, so bedeutet für die beiden Europen der Beginn der Neuzeit einen Umbruch, der sowohl das Wesen dieses Kontinents wie seine geographischen Umrisse betrifft. 1453 wurde Konstantinopel von den Türken erobert. O. Hiltbrunner kommentiert dazu lakonisch: "Die letzten… Gelehrten wanderten… nach Italien aus und vermittelten den Humanisten der Renaissance die Kenntnis der griechischen Originale; der Osten aber versank in Kulturlosigkeit." Das mag etwas schroff formuliert sein, weil ja auch das Osmanische Reich seine Kultur hatte; richtig ist, daß die christlich-griechische, "europäische" Kultur von Byzanz damit ein Ende fand. So drohte damit der eine Flügel Europas zu verschwinden, aber das byzantinische Erbe war nicht tot: Moskau erklärt sich zum dritten Rom, bildet nun selbst ein eigenes Patriarchat auf der Basis der Idee einer zweiten translatio imperii und stellt sich damit als eine neue Metamorphose des Sacrum Imperium dar - als eine eigene Form von Europa, das doch dem Westen verbunden blieb und sich immer mehr an ihm orientierte, bis schließlich Peter der Große es zu einem westlichen Land zu machen versuchte. Diese Nordverschiebung des byzantinischen Europa brachte es mit sich, daß nun auch die Grenzen des Kontinents weit nach Osten in Bewegung kamen. Die Festlegung des Ural als Grenze ist durchaus willkürlich, jedenfalls wurde die Welt östlich davon immer mehr zu einer Art Hinterhaus Europas, weder Asien noch Europa, vom Subjekt Europa wesentlich geformt, ohne selbst an seinem Subjektcharakter teilzunehmen: Objekt und nicht selber Träger seiner Geschichte. Vielleicht ist damit überhaupt das Wesen eines Kolonialstatus definiert.

Wir können also bezüglich des byzantinischen, nicht abendländischen Europa zu Beginn der Neuzeit von einem doppelten Vorgang sprechen: Auf der einen Seite steht das Erlöschen des alten Byzanz mit seiner historischen Kontinuität zum Römischen Reich; auf der anderen Seite erhält dieses zweite Europa mit Moskau eine neue Mitte und weitet seine Grenze nach Osten hin aus, um schließlich in Sibirien eine Art kolonialen Vorbau einzurichten. Gleichzeitig können wir im Westen ebenfalls einen doppelten Vorgang mit weitreichender historischer Bedeutung konstatieren. Ein großer Teil der germanischen Welt reißt sich los von Rom; eine neue, aufgeklärte Art des Christentums entsteht, so daß durch das "Abendland" von nun an eine Trennlinie verläuft, die deutlich auch einen kulturellen Limes, eine Grenze zweier unterschiedlicher Denk- und Verhaltensweisen bildet. Freilich gibt es auch innerhalb der protestantischen Welt Risse, zum einen zwischen Lutheranern und Reformierten, denen sich Methodisten und Presbyterianer zugesellen, während die Anglikanische Kirche einen Mittelweg zwischen katholisch und evangelisch auszubilden versucht; dazu kommt dann auch die Differenz zwischen staatskirchlich geformtem Christentum, das für Europa kennzeichnend wird und Freikirchen, die ihren Zufluchtsraum in Nordamerika finden, worüber noch zu sprechen sein wird. Achten wir zunächst noch auf den zweiten Vorgang, der die neuzeitliche Situation des ehemals lateinischen Europa wesentlich umprägt: die Entdeckung Amerikas. Der Osterweiterung Europas durch die fortschreitende Ausdehnung von Rußland nach Asien entspricht der radikale Ausbruch Europas aus seinen geographischen Grenzen in die Welt jenseits des Ozean, die nun den Namen Amerika empfängt; die Teilung Europas in eine lateinisch-katholische und eine germanisch-protestantische Hälfte überträgt sich auf diesen von Europa mit Beschlag belegten Erdteil. Auch Amerika wird zunächst zu einem erweiterten Europa, zur "Kolonie", schafft sich aber gleichzeitig mit der Erschütterung Europas durch die Französische Revolution seinen eigenen Subjektcharakter: Vom 19. Jahrhundert an steht es, wenngleich tief von seiner europäischen Geburt geprägt, Europa doch als eigenes Subjekt gegenüber.

Bei dem Versuch, durch den Blick auf die Geschichte die innere Identität Europas zu erkennen, haben wir jetzt zwei grundlegende geschichtliche Umbrüche anvisiert: als erstes die Ablösung des alten mediteranen Kontinents durch den weiter nördlich angesetzten Kontinent des Sacrum Imperium, in dem sich seit der Karolingischen Epoche "Europa" als westlich-lateinische Welt bildet; daneben das Fortbestehen des alten Rom in Byzanz mit seinem Ausgriff in die slawische Welt. Wir hatten als zweiten Schritt den Fall von Byzanz und die damit erfolgende Nord- und Ost-Verschiebung des christlichen Reichsgedankens auf der einen Seite Europas beobachtet, auf der anderen Seite die innere Teilung Europas in germanisch-protestantische und lateinisch-katholische Welt, dazu den Ausgriff nach Amerika, auf das sich diese Teilung überträgt und das sich schließlich als eigenes, Europa gegenüberstehendes geschichtliches Subjekt konstituiert. Nun müssen wir einen dritten Umbruch ins Auge fassen, dessen weithin sichtbares Fanal die Französische Revolution bildete. Zwar war das Sacrum Imperium schon seit dem späten Mittelalter als politische Realität in Auflösung begriffen und auch als tragende Geschichtsdeutung immer brüchiger geworden, aber jetzt erst zerbricht auch formell dieser geistige Rahmen, ohne den sich Europa nicht hätte bilden können. Dies ist sowohl in realpolitischer wie in ideeller Hinsicht ein Vorgang von erheblicher Tragweite. In ideeller Hinsicht bedeutet dies, daß die sakrale Fundierung der Geschichte und der staatlichen Existenz abgeworfen wird: Die Geschichte mißt sich nicht mehr an einer ihr vorausliegenden und sie formenden Idee Gottes; der Staat wird nunmehr rein säkular betrachtet, auf Rationalität und Bürgerwillen gegründet. Erstmals in der Geschichte überhaupt entsteht der rein säkulare Staat, der die göttliche Verbürgung und Normierung des Politischen als mythische Weltansicht ablegt und Gott selbst zur Privatsache erklärt, die nicht ins Öffentliche der gemeinsamen Willensbildung gehört. Die wird nun allein als Sache der Vernunft angesehen, für die Gott nicht eindeutig erkennbar erscheint: Religion und Glaube an Gott gehören dem Bereich des Fühlens, nicht der Vernunft zu. Gott und sein Wille hören auf, öffentlich relevant zu sein.

Auf diese Weise entsteht mit dem ausgehenden 18. und dem beginnenden 19. Jahrhundert eine neue Art von Glaubensspaltung, deren Ernst wir zusehends zu fühlen bekommen. Sie hat im Deutschen keinen Namen, weil sie hier sich langsamer ausgewirkt hat. In den lateinischen Sprachen wird sie als Spaltung zwischen "Christen" und "Laien" bezeichnet. Diese Spannung ist in den letzten zwei Jahrhunderten als ein tiefer Riß durch die lateinischen Nationen gegangen, während das protestantische Christentum es zunächst leichter hatte, liberalen und aufgeklärten Ideen in seinem Inneren Raum zu geben, ohne daß der Rahmen eines weitläufigen christlichen Grundkonsenses dabei hätte gesprengt werden müssen. Die realpolitische Seite der Ablösung der alten Reichsidee besteht darin, daß nun definitiv die Nationen, die durch die Ausbildung einheitlicher Sprachräume als solche identifizierbar geworden waren, als die eigentlichen und einzigen Träger der Geschichte erscheinen, also einen Rang erhalten, der ihnen vorher so nicht zugekommen war. Die explosive Dramatik dieses nun pluralen Geschichtssubjekts zeigt sich darin, daß sich doch die großen europäischen Nationen mit einer universalen Sendung betraut wußten, die notwendig zum Konflikt zwischen ihnen führen mußte, dessen tödliche Wucht wir in dem nun verflossenen Jahrhundert leidvoll erfahren haben.



Die Universalisierung der europäischen Kultur und ihre Krise

Schließlich ist da aber noch ein weiterer Vorgang zu bemerken, mit dem sich die Geschichte der letzten Jahrhunderte deutlich in ein neues hinein überschreitet. Hatte das alte vorneuzeitliche Europa in seinen beiden Hälften wesentlich nur ein Gegenüber gekannt, mit dem es sich auf Leben und Tod auseinanderzusetzen hatte, nämlich die islamische Welt; hatte die neuzeitliche Wende die Ausweitung nach Amerika und in Teile Asiens ohne eigene große Kultursubjekte gebracht, so erfolgt nun der Ausgriff auf die beiden bisher nur marginal berührten Kontinente: Afrika und Asien, die man jetzt ebenfalls zu Ablegern Europas, zu "Kolonien" umzugestalten versuchte. Bis zu einem gewissen Grad ist das auch gelungen, insofern jetzt auch Asien und Afrika dem Ideal der technisch geprägten Welt und ihres Wohlstands nacheifern, so daß auch dort die alten religiösen Überlieferungen in eine Situation der Krise eintreten und rein säkular denkende Schichten immer mehr das öffentliche Leben beherrschen. Aber es gibt auch eine Gegenwirkung: Die Renaissance des Islam ist nicht nur mit dem neuen materiellen Reichtum islamischer Länder verbunden, sondern auch von dem Bewußtsein gespeist, daß der Islam eine tragfähige geistige Grundlage für das Leben der Völker zu bieten vermöge, die dem alten Europa abhanden gekommen zu sein scheint, das so trotz seiner noch währenden politischen und wirtschaftlichen Macht immer mehr zum Abstieg und zum Untergang verurteilt angesehen wird. Auch die großen religiösen Traditionen Asiens, vor allem seine im Buddhismus ausgedrückte mystische Komponente erheben sich als geistige Kräfte gegen ein Europa, das seine religiösen und sittlichen Grundlagen verneint. Der Optimismus über den Sieg des Europäischen, den Arnold Toynbee noch zu Beginn der sechziger Jahre vertreten konnte, erscheint heute seltsam überholt: "Von 28 Kulturen, die wir identifiziert haben… sind 18 tot und neun von den verbliebenen zehn - alle in der Tat außer unserer - zeigen, daß sie bereits niedergebrochen sind." Wer würde das heute so noch sagen mögen? Und überhaupt - was ist das, "unsere" Kultur, die noch geblieben ist? Ist die siegreich über die Welt ausgebreitete Zivilisation der Technik und des Kommerzes die europäische Kultur? Oder ist sie nicht eher posteuropäisch aus dem Ende der alten europäischen Kulturen geboren? Ich sehe da eine paradoxe Synchronie: Mit dem Sieg der posteuropäischen technisch-säkularen Welt, mit der Universalisierung ihres Lebensmusters und ihrer Denkweise verbindet sich weltweit, besonders aber in den streng nicht-europäischen Welten Asiens und Afrikas der Eindruck, daß die Wertewelt Europas, seine Kultur und sein Glaube, worauf seine Identität beruhten, am Ende und eigentlich schon abgetreten sei; daß nun die Stunde der Wertesysteme anderer Welten, des präkolumbianischen Amerika, des Islam, der asiatischen Mystik gekommen sei. Europa scheint in dieser Stunde seines äußersten Erfolgs von innen her leer geworden, gleichsam von einer lebensbedrohenden Kreislaufkrise gelähmt, sozusagen auf Transplantate angewiesen, die dann aber doch seine Identität aufheben müssen. Diesem inneren Absterben der tragenden seelischen Kräfte entspricht es, daß auch ethnisch Europa auf dem Weg der Verabschiedung begriffen erscheint. Es gibt eine seltsame Unlust an der Zukunft. Kinder, die Zukunft sind, werden als Bedrohung der Gegenwart angesehen; sie nehmen uns etwas von unserem Leben weg, so meint man. Sie werden weithin nicht als Hoffnung, sondern als Grenze der Gegenwart empfunden. Der Vergleich mit dem untergehenden Römischen Reich drängt sich auf, das als großer geschichtlicher Rahmen noch funktionierte, aber praktisch schon von denen lebte, die es auflösen sollten, weil es selbst keine Lebenskraft mehr hatte.

Damit sind wir bei den Problemen der Gegenwart angelangt. Über die mögliche Zukunft Europas gibt es zwei gegensätzliche Diagnosen. Da ist auf der einen Seite die These von Oswald Spengler, der für die großen Kulturgestalten eine Art von naturgesetzlichem Verlauf glaubte feststellen zu können: Es gibt den Augenblick der Geburt, den allmählichen Aufstieg, die Blütezeit einer Kultur, ihr langsames Ermüden, Altern und Tod. Spengler belegt seine These eindrucksvoll aus der Geschichte der Kulturen, in der man dieses Verlaufsgesetz nachzeichnen kann. Seine These war, daß das Abendland in seiner Spätphase angelangt sei, die allen Beschwörungen zum Trotz unausweichlich auf den Tod dieses kulturellen Kontinents hinausläuft. Natürlich kann er seine Gaben an eine neu aufsteigende Kultur weiterreichen, wie es in früheren Untergängen geschehen ist, aber als dieses Subjekt habe er seine Lebenszeit hinter sich. Diese als biologistisch gebrandmarkte These hat zwischen den beiden Weltkriegen besonders im katholischen Raum leidenschaftliche Bestreiter gefunden; eindrucksvoll ist ihr auch Arnold Toynbee entgegengetreten, freilich mit Postulaten, die heute wenig Gehör finden. Toynbee stellt die Differenz zwischen materiellem-technischem Fortschritt einerseits, wirklichem Fortschritt andererseits heraus, den er als Vergeistigung definiert. Er räumt ein, daß sich das Abendland - die "westliche Welt" - in einer Krise befindet, deren Ursache er im Abfall von der Religion zum Kult der Technik, der Nation und des Militarismus sieht. Die Krise heißt für ihn letztlich: Säkularismus. Wenn man die Ursache der Krise kennt, kann man auch den Weg der Heilung angeben: Das religiöse Moment muß neu eingeführt werden, wozu für ihn das religiöse Erbe aller Kulturen gehört, besonders aber das, "was vom abendländischen Christentum übriggeblieben ist." Der biologistischen tritt hier eine voluntaristische Sicht entgegen, die auf die Kraft schöpferischer Minderheiten und herausragender Einzelpersönlichkeiten setzt. Es stellt sich die Frage: Ist die Diagnose richtig? Und wenn - liegt es in unserer Macht, das religiöse Moment neu einzuführen, in einer Synthese aus Restchristentum und religiösem Menschheitserbe? Letztlich bleibt die Frage zwischen Spengler und Toynbee offen, weil wir nicht in die Zukunft schauen können. Aber unabhängig davon stellt sich die Aufgabe, nach dem zu fragen, was Zukunft gewähren kann und was die innere Identität Europas in allen geschichtlichen Metamorphosen weiterzuführen vermag. Oder noch einfacher: was auch heute und morgen die Menschenwürde und ein ihr gemäßes Dasein zu schenken verspricht.

Um darauf Antwort zu finden, müssen wir noch einmal in unsere Gegenwart hineinblicken und zugleich ihre geschichtlichen Wurzeln gegenwärtig halten. Wir waren vorhin ja bei der Französischen Revolution und dem 19. Jahrhundert stehen geblieben. In dieser Zeit haben sich vor allem zwei neue "europäische" Modelle entwickelt. Da steht bei den lateinischen Nationen das laizistische Modell: Der Staat ist streng geschieden von den religiösen Körperschaften, die in den privaten Bereich verwiesen sind. Er selber lehnt ein religiöses Fundament ab und weiß sich allein auf die Vernunft und ihre Einsichten gegründet. Angesichts der Fragilität der Vernunft haben sich diese Systeme als brüchig und diktaturanfällig erwiesen; sie überleben eigentlich nur, weil Teile des alten moralischen Bewußtseins auch ohne die vorigen Grundlagen weiterbestehen und einen moralischen Basiskonsens ermöglichen. Auf der anderen Seite stehen im germanischen Raum in unterschiedlicher Weise die staatskirchlichen Modelle des liberalen Protestantismus, in denen eine aufgeklärte, wesentlich als Moral gefaßte christliche Religion - auch mit staatlich verbürgten Kultformen - den moralischen Konsens und eine weit gespannte religiöse Grundlage verbürgt, der sich die einzelnen nicht staatlichen Religionen anzupassen haben. Dieses Modell hat in Groß-Britannien, in den skandinavischen Staaten und zunächst auch im preußisch dominierten Deutschland staatlichen und gesellschaftlichen Zusammenhalt über lange Zeit hin verbürgt. In Deutschland allerdings hat der Zusammenbruch des preußischen Staatskirchentums ein Vakuum geschaffen, das sich dann ebenfalls als Leerraum für eine Diktatur anbot. Heute sind die Staatskirchen überall von der Auszehrung befallen: Von religiösen Körpern, die Derivate des Staates sind, geht keine moralische Kraft aus, und der Staat selbst kann moralische Kraft nicht schaffen, sondern muß sie voraussetzen und auf ihr aufbauen. Zwischen den beiden Modellen stehen die Vereinigten Staaten von Nordamerika, die einerseits - auf freikirchlicher Grundlage geformt - von einem strikten Trennungsdogma ausgehen, andererseits über die einzelnen Denominationen hinweg doch tief von einem nicht konfessionell geprägten protestantisch-christlichen Grundkonsens geprägt wurden, der sich mit einem besonderen Sendungsbewußtsein religiöser Art der übrigen Welt gegenüber verband und so dem religiösen Moment ein bedeutendes öffentliches Gewicht gab, das als vorpolitische und überpolitische Kraft für das politische Leben bestimmend sein konnte. Freilich darf man sich nicht verbergen, daß auch in den Vereinigten Staaten die Auflösung des christlichen Erbes unablässig voranschreitet, während gleichzeitig die schnelle Zunahme des spanischen Elements und die Anwesenheit religiöser Traditionen aus aller Welt das Bild verändert. Vielleicht muß man hier doch auch anmerken, daß die Vereinigten Staaten die Protestantisierung Lateinamerikas, also die Ablösung der katholischen Kirche durch freikirchliche Formen unübersehbar fördern, aus der Überzeugung heraus, daß die katholische Kirche keine stabilen Wirtschafts- und politischen Systeme gewährleisten könne, insofern also als Erzieherin der Nationen versage, während man erwartet, daß das freikirchliche Modell einen ähnlichen moralischen Konsens und demokratische Willensbildung ermöglichen werde, wie sie für die Vereinigten Staaten charakteristisch sind. Um das Bild weiter zu komplizieren, muß man hinzunehmen, daß heute die katholische Kirche die größte Religionsgemeinschaft in den Vereinigten Staaten bildet, daß sie in ihrem Glaubensleben ganz entschieden zur katholischen Identität steht, daß aber die Katholiken hinsichtlich des Verhältnisses von Kirche und Politik die freikirchlichen Traditionen in dem Sinn aufgenommen haben, daß gerade eine nicht dem Staat verschmolzene Kirche die moralischen Grundlagen des Ganzen besser gewährleistet, so daß die Förderung des demokratischen Ideals als eine tief dem Glauben gemäße moralische Verpflichtung erscheint. Man kann in einer solchen Position mit gutem Recht eine zeitgemäße Fortführung des Modells von Papst Gelasius sehen, von dem ich oben gesprochen hatte.
Kehren wir nach Europa zurück. Zu den zwei Modellen, von denen wir vorher sprachen, hat sich noch im 19. Jahrhundert ein drittes gesellt, nämlich der Sozialismus, der sich alsbald in zwei unterschiedliche Wege aufteilte, den totalitären und den demokratischen. Der demokratische Sozialismus hat sich von seinem Ausgangspunkt her als ein heilsames Gegengewicht gegenüber den radikal liberalen Positionen in die beiden bestehenden Modelle einzufügen vermocht, sie bereichert und auch korrigiert. Er erwies sich dabei auch als die Konfessionen übergreifend: In England war er die Partei der Katholiken, die sich weder im protestantisch-konservativen noch im liberalen Lager zu Hause fühlen konnten. Auch im wilhelminischen Deutschland konnte sich das katholische Zentrum weithin dem demokratischen Sozialismus näher fühlen als den streng preußisch protestantischen konservativen Kräften. In vielem stand und steht der demokratische Sozialismus der katholischen Soziallehre nahe, jedenfalls hat er zur sozialen Bewußtseinsbildung erheblich beigetragen. Das totalitäre Modell hingegen verband sich mit einer streng materialistischen und atheistischen Geschichtsphilosophie: Die Geschichte wird deterministisch als ein Prozeß des Fortschritts über die religiöse und die liberale Phase hin zur absoluten und endgültigen Gesellschaft verstanden, in der Religion als Relikt der Vergangenheit überwunden sein und das Funktionieren der materiellen Bedingungen das Glück aller gewährleisten wird. Die scheinbare Wissenschaftlichkeit verbirgt einen intoleranten Dogmatismus: Der Geist ist Produkt der Materie; die Moral ist Produkt der Umstände und muß je nach den Zwecken der Gesellschaft definiert und praktiziert werden; alles, was der Herbeiführung des glücklichen Endzustandes dient, ist moralisch. Hier ist die Umwertung der Werte, die Europa gebaut hatten, vollständig. Mehr, hier vollzieht sich ein Bruch mit der gesamten moralischen Tradition der Menschheit: Es gibt keine von den Zwecken des Fortschritts unabhängigen Werte mehr, alles kann im gegebenen Augenblick erlaubt oder sogar notwendig, im neuen Sinn moralisch sein. Auch der Mensch kann zum Mittel werden; nicht der einzelne zählt, sondern einzig die Zukunft wird zur grausamen Gottheit, die über alle und alles verfügt.

Die kommunistischen Systeme sind inzwischen zunächst an ihrer falschen ökonomischen Dogmatik gescheitert. Aber man übersieht allzu gern, daß sie tieferhin an ihrer Menschenverachtung, an ihrer Unterordnung der Moral unter die Bedürfnisse des Systems und seine Zukunftsverheißungen zugrunde gegangen sind. Die eigentliche Katastrophe, die sie hinterlassen haben, ist nicht wirtschaftlicher Natur; sie besteht in der Verwüstung der Seelen, in der Zerstörung des moralischen Bewußtseins. Ich sehe ein wesentliches Problem unserer Stunde für Europa und für die Welt darin, daß zwar nirgends das wirtschaftliche Scheitern bestritten wird und daher Altkommunisten ohne Zögern zu Wirtschaftsliberalen geworden sind; hingegen wird die moralische und religiöse Problematik, um die es eigentlich ging, fast völlig verdrängt. Insofern besteht die vom Marxismus hinterlassene Problematik auch heute fort: Die Auflösung der Urgewißheiten des Menschen über Gott, über sich selbst und über das Universum - die Auflösung des Bewußtseins moralischer Werte, die nie zur Disposition stehen, ist noch immer und gerade jetzt wieder unser Problem und kann zur Selbstzerstörung des europäischen Bewußtseins führen, die wir - unabhängig von Spenglers Untergangsvision - als eine reale Gefahr ins Auge fassen müssen.

Wo stehen wir heute?

So stehen wir vor der Frage: Wie soll es weitergehen? Gibt es in den gewaltigen Umbrüchen unserer Zeit eine Identität Europas, die Zukunft hat und zu der wir von innen her stehen können? Für die Väter der europäischen Einigung nach den Verwüstungen des Zweiten Weltkriegs - Adenauer, Schumann, de Gasperi - war es klar, daß es eine solche Grundlage gibt und daß sie im christlichen Erbe unseres durch das Christentum gewordenen Kontinents besteht. Für sie war klar, daß die Zerstörungen, mit denen uns die Nazidiktatur und die Diktatur Stalins konfrontierten, gerade auf der Abstoßung dieser Grundlage beruhten - auf einer Hybris, die sich dem Schöpfer nicht mehr unterwarf, sondern beanspruchte, selbst den besseren, den neuen Menschen zu schaffen und die schlechte Welt des Schöpfers umzumontieren in die gute Welt, die aus dem Dogmatismus der eigenen Ideologie entstehen sollte. Für sie war klar, daß diese Diktaturen, die eine ganz neue Qualität des Bösen hervorbrachten, weit über alle Greuel des Krieges hinaus, auf der gewollten Abschaffung Europas beruhten und daß man wieder zu dem zurückkehren müsse, was diesem Kontinent in allen Leiden und Verfehlungen seine Würde gegeben hatte. Der anfängliche Enthusiasmus der neuen Zuwendung zu den großen Konstanten des christlichen Erbes ist schnell verflogen, und die europäische Einigung hat sich dann zunächst fast ausschließlich unter wirtschaftlichen Aspekten vollzogen, unter weitgehender Ausklammerung der Frage nach den geistigen Grundlagen einer solchen Gemeinschaft.

In den letzten Jahren ist das Bewußtsein dafür wieder gewachsen, daß die wirtschaftliche Gemeinschaft der europäischen Staaten auch einer Grundlage gemeinsamer Werte bedarf: Das Anwachsen der Gewalt, die Flucht in die Droge, das Zunehmen der Korruption läßt uns sehr fühlbar werden, daß der Werteverfall durchaus auch materielle Folgen hat und daß Gegensteuerung notwendig ist.Die zu erhoffende künftige europäische Verfassung wird zu den Grundlagen europäischer Identität Stellung nehmen müssen. Ich möchte hier nicht in die Diskussionen um diesen Text eintreten, sondern nur drei wesentliche Elemente benennen, die meiner Überzeugung nach nicht fehlen dürfen. Das erste ist die Unbedingtheit,mit der Menschenwürde und Menschenrecht als Werteerscheinen müssen, die jeder staatlichen Rechtssetzung vorangehen. Günter Hirsch hat mit Recht betont, daß diese Grundrechte nicht vom Gesetzgeber geschaffen noch den Bürgern verliehen werden, "vielmehr existieren sie aus eigenem Recht, sie sind seit je vom Gesetzgeber zu respektieren, ihm vorgegeben als übergeordnete Werte." Diese allem politischen Handeln und Entscheiden vorangehende Gültigkeit der Menschenwürde verweist letztlich auf den Schöpfer: Nur er kann Rechte setzen, die im Wesen des Menschen gründen und für niemanden zur Disposition stehen. Insofern ist hier wesentlich christliches Erbe in seiner besonderen Art von Gültigkeit kodifiziert. Daß es Werte gibt, die für niemanden manipulierbar sind, ist die eigentliche Gewähr unserer Freiheit und menschlicher Größe; der Glaube sieht darin das Geheimnis des Schöpfers und der von ihm dem Menschen verliehenen Gottebenbildlichkeit. So schützt dieser Satz ein Wesenselement der christlichen Identität Europas in einer auch dem Ungläubigen verstehbaren Formulierung.

Nun wird heute kaum jemand direkt die Vorgängigkeit der Menschenwürde und der grundlegenden Menschenrechte vor allen politischen Entscheiden verleugnen; zu kurz liegen noch die Schrecknisse des Nazismus und seiner Rassenlehre zurück. Aber im konkreten Bereich des sogenannten medizinischen Fortschritts gibt es sehr reale Bedrohungen dieser Werte: Ob wir an die Klonation, an die Vorratshaltung menschlicher Föten zum Zweck der Forschung und der Organspende, an den ganzen Bereich der genetischen Manipulation denken - die stille Auszehrung der Menschenwürde, die hier droht, kann niemand übersehen. Dazu kommen in wachsendem Maß der Menschenhandel, neue Formen der Sklaverei, das Geschäft mit menschlichen Organen zum Zweck der Transplantation. Immer werdennatürlich"gute Zwecke" vorgebracht, um das zu rechtfertigen, was nicht zu rechtfertigen ist.

Fassen wir zusammen: Die Festschreibung von Wert und Würde des Menschen, von Freiheit, Gleichheit und Solidarität mit den Grundsätzen der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit schließt ein Menschenbild, eine moralische Option und eine Idee des Rechts ein, die sich keineswegs von selbst verstehen, aber in der Tat grundlegende Identitätsfaktoren Europas sind, die auch in ihren konkreten Konsequenzen verbürgt werden müßten und freilich nur verteidigt werden können, wenn sich ein entsprechendes moralisches Bewußtsein immer neu bildet.
Ich komme zu einem zweiten Punkt, der für die europäische Identität wesentlich ist:Ehe und Familie. Die monogame Ehe ist als grundlegende Ordnungsgestalt des Verhältnisses von Mann und Frau und zugleich als Zelle staatlicher Gemeinschaftsbildung vom biblischen Glauben her geformt worden. Sie hat Europa, dem abendländischen wie dem östlichen, sein besonderes Gesicht und seine besondere Menschlichkeit gegeben, auch und gerade weil die damit vorgezeichnete Form von Treue und von Verzicht immer wieder neu leidvoll errungen werden mußte. Europa wäre nicht mehr Europa, wenn diese Grundzelle seines sozialen Aufbaus verschwände oder wesentlich verändert würde.Wir alle wissen, wie sehr Ehe und Familieheute gefährdet sind - zum einen durch die Aushöhlung ihrer Unauflöslichkeit durch immer leichtere Formen der Scheidung, zum anderen durch ein sich immer mehr ausbreitendes neues Verhalten, das Zusammenleben von Mann und Frau ohne die rechtliche Form der Ehe. In krassem Gegensatz dazu steht das Verlangen homosexueller Lebensgemeinschaften, die nun paradoxerweise eine Rechtsform verlangen, die mehr oder weniger der Ehe gleichgestellt werden soll. Mit dieser Tendenz tritt man aus der gesamten moralischen Geschichte der Menschheit heraus, die bei aller Verschiedenheit der Rechtsformen der Ehe doch immer wußte, daß diese ihrem Wesen nach das besondere Miteinander von Mann und Frau ist, das sich auf Kinder hin und so auf die Familie hin öffnet. Hier geht es nicht um Diskriminierung, sondern um die Frage, was der Mensch als Mann und Frau ist und wie das Miteinander von Mann und Frau recht geformt werden kann. Wenn einerseits ihr Miteinander sich immer mehr von rechtlichen Formen löst, wenn andererseits homosexuelle Gemeinschaft immer mehr der Ehe gleichrangig angesehen wird, stehen wir vor einer Auflösung des Menschenbildes, deren Folgen nur äußerst gravierend sein können. Dazu fehlt leider ein klares Wort in der Charta.

Mein letzter Punkt betrifft den religiösen Bereich. Es würde den Rahmen dieser Konferenz überschreiten, die großen Fragen zu diskutieren, um die in diesem Bereich gerungen wird. So beschränke ich mich auf einen Punkt, der für alle Kulturen grundlegend ist:die Ehrfurcht vor dem, was dem anderen heilig ist und die Ehrfurcht vor dem Heiligen überhaupt, vor Gott, die sehr wohl auch demjenigen zumutbar ist, der selbst nicht an Gott zu glauben bereit ist. Wo diese Ehrfurcht zerbrochen wird, geht in einer Gesellschaft Wesentliches zugrunde. In unserer gegenwärtigen Gesellschaft wird gottlob jemand bestraft, der den Glauben Israels, sein Gottesbild, seine großen Gestalten verhöhnt. Es wird auch jemand bestraft, der den Koran und die Grundüberzeugungen des Islam herabsetzt. Wo es dagegen um Christus und um das Heilige der Christen geht, erscheint die Meinungsfreiheit als das höchste Gut, das einzuschränken die Toleranz und die Freiheit überhaupt gefährden oder gar zerstören würde. Meinungsfreiheit findet aber ihre Grenze darin, daß sie Ehre und Würde des anderen nicht zerstören darf; sie ist nicht Freiheit zur Lüge oder zur Zerstörung von Menschenrechten. Hier gibt es einen merkwürdigen und nur als pathologisch zu bezeichnenden Selbsthaß des Abendlandes, das sich zwar lobenswerterweise fremden Werten verstehend zu öffnen versucht, aber sich selbst nicht mehr mag, von seiner eigenen Geschichte nur noch das Grausame und Zerstörerische sieht, das Große und Reine aber nicht mehr wahrzunehmen vermag. Europa braucht, um zu überleben, eine neue - gewiß kritische und demütige - Annahme seiner selbst, wenn es überleben will. Die immer wieder leidenschaftlich geforderte Multikulturalität ist manchmal vor allem Absage an das Eigene, Flucht vor dem Eigenen. Aber Multikulturalität kann ohne gemeinsame Konstanten, ohne Richtpunkte des Eigenen nicht bestehen. Sie kann ganz sicher nicht ohne Ehrfurcht vor dem Heiligen bestehen. Zu ihr gehört es, dem Heiligen des anderen ehrfürchtig zu begegnen, aber dies können wir nur, wenn uns das Heilige, Gott, selbst nicht fremd ist. Gewiß, wir können und sollen vom Heiligen der anderen lernen, aber es ist gerade vor den anderen und für die anderen unsere Pflicht, selbst in uns die Ehrfurcht vor dem Heiligen zu nähren und das Gesicht des Gottes zu zeigen, der uns erschienen ist - des Gottes, der sich der Armen und Schwachen, der Witwen und Waisen, des Fremden annimmt; des Gottes, der so menschlich ist, daß er selbst ein Mensch werden wollte, ein leidender Mensch, der mit uns mitleidend dem Leiden Würde und Hoffnung gibt. Wenn wir dies nicht tun, verleugnen wir nicht nur die Identität Europas, sondern versagen auch den anderen einen Dienst, auf den sie Anspruch haben. Den Kulturen der Welt ist die absolute Profanität, die sich im Abendland herausgebildet hat, zutiefst fremd. Sie sind überzeugt, daß eine Welt ohne Gott keine Zukunft hat. Insofern ruft uns gerade die Multikulturalität wieder zu uns selber zurück.

Wie es mit Europa weitergehen wird, wissen wir nicht. Die Charta der Grundrechte kann ein erster Schritt sein, daß es wieder bewußt seine Seele sucht. Toynbee ist darin Recht zu geben, daß das Schicksal einer Gesellschaft immer wieder von schöpferischen Minderheiten abhängt. Die gläubigen Christen sollten sich als eine solche schöpferische Minderheit verstehen und dazu beitragen, daß Europa das Beste seines Erbes neu gewinnt und damit der ganzen Menschheit dient.
(Vortrag gehalten vor italienischen Politikern im Frühjahr 2004. Die deutsche Fassung im November 2004 als Radioakademie für Radio Vatikan.)







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