Vatikan: Neues Interview mit Kardinal Ratzinger zu Buttiglione, Niederlande, EU-Verfassung
- Zeigt der Fall Buttiglione, dass die Mitarbeit von Christen in der EU nicht mehr
gewollt ist?
"In der Tat - es ist ein Zeichen, daß zunächst die weltanschauliche
Neutralität des staatlichen Bereichs sich in eine Art von ideologischer Dogmatik umzuwandeln
im Begriff steht, Laizismus also nicht mehr die Gewähr vielfältiger Überzeugungen
in Freiheit darstellt, sondern sich selbst als eine Ideologie etabliert, die vorschreibt,
was man denken und sagen darf und eine öffentliche Präsenz des Christlichen, zum Beispiel,
eben nicht mehr gewährleistet. Das ist, denke ich, schon ein Phänomen, das uns zu
denken geben muß: dass das, was zunächst als Gewähr gemeinsamer Freiheit erschien,
sich in eine Ideologie umformt, die zum Dogmatismus wird und die Religionsfreiheit
zu gefährden beginnt."
- Stürzt im Moment in den Niederlanden ein multi-kulturelles
Kartenhaus in sich zusammen?
"Dass natürlich die Multi-Kulturalität so einfach
nicht geht, wie man es hinstellt; dass faktisch die Erfahrung der Fremdheit auch immer
wieder Zusammenstöße schaffen wird; und dass sie also nicht auf der Basis der Gleichgültigkeit,
sondern nur auf der Basis positiver Wertschätzung wachsen kann - das scheint mir schon
offensichtlich zu sein."
- War es von der Kirche richtig, sich so auf die
EU-Verfassung, auf Christentumsbezug und auf Erwähnung Gottes zu "kaprizieren"? Oder
war das angesichts einer Verfassungstradition, die in Europa auch lange ohne Gottesbezüge
herangewachsen war, nicht vielleicht doch der falsche Schauplatz für das Thema, dass
das Christentum weiter seine Rolle spielen soll beim Aufbau Europas? Wie sehen Sie
das im Rückblick?
"Zweierlei ist wichtig: Zum einen, dass man natürlich
in den großen inhaltlichen Punkten die Präsenz unseres Rechts- und Moralbewußtseins
gewährleistet - was zum Teil gelungen ist. Insofern ist natürlich der Inhalt, also
die einzelnen Elemente der Europäischen Verfassung, ganz entscheidend. Wenn nur in
der Präambel etwas stünde, was keine Entsprechung in den wesentlichen Rechtsvorstellungen
fände, wäre es eine Leerformel, die nichts nützen würde. Ich denke aber,
dass man schon darum gerungen hat, in den konkreten Elementen der Europäischen Verfassung
und ihrer Rechtsgestalt das christliche Rechtserbe zur Geltung zu bringen... mit unterschiedlichem
Erfolg. Trotzdem würde ich es nicht als unnütz oder gar verfehlt ansehen,
dass in der Präambel selbst eine Identität definiert wird und dass Europa einfach
sagt, was es ist, wo es herkommt, von wo es seine Maßstäbe nimmt. Ich würde sagen:
Die Berufung auf Gott ist in der deutschen Verfassung ja da; sie ist in der amerikanischen
Tradition, in der angelsächsischen Tradition... Ich würde auch sagen: Das Argument
ist falsch, dass man damit andere Religionen schockiert. Im Gegenteil: Sie sind schockiert
über unseren absoluten Säkularismus. Deswegen meine ich, dass schon beides
sich entsprechen muß - dass in der Präambel die geistigen Grundlagen benannt werden
müssen und, und die sind nun einmal in dem biblischen Erbe gegeben, und dass andererseits
natürlich das, was dann an Rechtsgestalt noch ausgeführt wird, diesem in der Präambel
Gesagten entsprechen muss."
- Ist denn nicht das amerikanische Modell -
Religion als Rechtsfertigungsfundus für das Handeln - erfolgversprechender gegenüber
dem europäischen, das eine immer weitere Trennung und Differenzierung der Sphären
bis hin zum drohenden Verschwinden des Christlichen will?
"Ja, ich denke
schon, dass in vieler Hinsicht das amerikanische Modell besser ist. Europa war im
Staatskirchentum festgefahren; die Leute, die nicht einer Staatskirche zugehören wollten,
sind nach Amerika gegangen und haben also bewußt einen Staat geschaffen, der selber
nicht eine Kirche vorschreibt, der aber nicht einfach als religiös neutral erfahren
wurde, sondern als der Raum, in dem Religionen sich bewegen können und auch öffentliche
Gestaltungsfreiheit haben, nicht bloß ins Private verwiesen sind. Insofern kann man
ohne Zweifel von Amerika lernen. Dass wir das jetzt nicht so einfach auf uns übertragen
können, ist mir klar, aber der Vorgang, dass der Staat Raum gibt für die Religion,
sie aber nicht selbst vorgibt, aber doch wieder davon lebt, dass sie da ist und öffentliche
Gestaltungskraft hat, ist sicher eine positive Form."
Die Fragen an Kardinal
Ratzinger stellte Stefan Kempis im Studio von Radio Vatikan.